Bernd K. und die Verfügbarkeitsheuristik

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- die bei Medikamentenentscheidungen vor allem ihrem Bauchgefühl vertrauen,
- die schon einmal eine Therapie abgebrochen haben, weil sich die Behandlung „nicht gut angefühlt“ hat,
- die sich unsicher sind, ob sie ihrer Wahrnehmung oder den medizinischen Empfehlungen folgen sollen.
Mit dem Bild von Herz und Hirn am Klavier wollen wir zum Umdenken anregen: Gute Entscheidungen brauchen mehr als ein Gefühl. Sie brauchen auch Klarheit, Verstehen und Einordnung. Erst wenn Kopf und Bauch zusammenarbeiten, entsteht eine Entscheidung, die wirklich trägt – und nicht nur kurzfristig entlastet.
Das Poster soll dabei helfen, emotionale Reflexe zu erkennen, innezuhalten und bewusster zu entscheiden – gerade dann, wenn es um die eigene Gesundheit geht.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
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Der Text unter dem Poster
Der Neurowissenschaftler António Damásio hat gezeigt: Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos – er kann keine Entscheidungen treffen.
Doch auch umgekehrt gilt: Wer nur auf sein Bauchgefühl hört, übersieht leicht wichtige Fakten. Gerade bei Entscheidungen im Rahmen einer medizinischen Behandlung reicht es nicht, nur zu fühlen – und auch nicht, nur zu rechnen. Es braucht beides: Herz und Hirn.
Manche Patientinnen und Patienten zögern bei der Einnahme von Medikamenten, weil das, was sie darüber lesen oder hören, zunächst verunsichert. Wenn Sie sich in diesen Zeilen wiederfinden, sprechen Sie uns gerne an. Wir unterstützen Sie dabei, Herz und Hirn in Einklang zu bringen – für eine Entscheidung, die Sie verstehen, mittragen und mit gutem Gefühl umsetzen können.
Bernd K. hat mich kontaktiert. Ich habe mich mit ihm getroffen.
Bernds „Geschichte“
Bernd K. ist 62 Jahre alt, selbstständig und lebt aktiv – bis vor zwei Jahren ein nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI) seine Lebensplanung jäh unterbrach. Die Ursache war schnell gefunden: eine ausgeprägte familiäre Hypercholesterinämie mit LDL-Werten weit über dem Zielbereich. Zunächst wurde er auf ein Statin in Hochdosis eingestellt, doch nach einigen Wochen klagte er über Muskelschmerzen, fühlte sich „wie ein alter Mann“ – und setzte die Tabletten eigenmächtig ab. Ein neuer Versuch mit Ezetimib brachte nur geringe Wirkung. Trotz Diät, Bewegung und großer Motivation: Das LDL blieb kritisch hoch.
Sein Kardiologe empfahl daraufhin den Einsatz von Evolocumab. Herr Krüger zeigte sich aufgeschlossen, nahm an der Einweisung zur Selbstinjektion teil und begann mit der Therapie.
Doch nach zwei Injektionen brach er die Therapie ab. Einige Wochen später sah er das oben abgebildete Poster in der Praxis seines Hausarztes. Es brachte ihn zum Umdenken. Er suchte seinen Kardiologen erneut auf und setzte die Therapie mit Evolocumab fort. Er rief mich an, um mir „seine Geschichte“ zu erzählen, damit andere Patientinnen und Patienten nicht den gleichen Fehler machen, wie er.
Die Analyse von Bernds Entscheidung
Ich habe mich mit zahlreichen Patienten getroffen, die ein verschriebenes Arzneimittel einfach abgesetzt haben. Die meisten dieser Patienten haben mich durch die Vermittlung ihrer Ärzte oder Apotheker kontaktiert, nachdem sie eingesehen haben, dass sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Bei vielen dieser Patienten kam die Einsicht, weil sich ihre Krankheit anschließend verschlechtert hat. Bei Bernd war die Situation etwas anders. Das oben abgebildete Poster hat ihn dazu motiviert, sich kritisch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie seine Entscheidung getroffen hat. Seine Motivation mich zu treffen, war, das andere aus seinem Fehler lernen.
Meine Gespräche mit den Patienten folgen immer der gleichen Struktur. Im Zentrum steht immer die Frage, warum jemand diese Entscheidung getroffen hat. Bernds Antwort auf diese Frage war:
„Ich habe die Therapie mit den Injektionen wieder abgebrochen. Subjektiv geht es mir gut, und ich wollte mich nicht ständig daran erinnern, dass ich krank bin. Außerdem weiß man ja nie, welche Langzeitwirkungen solche neuen Medikamente haben. Früher habe ich ja auch ohne all das gelebt. Und ganz ehrlich: Ich musste sofort an meine Erfahrung mit den Statinen denken – wie schlecht es mir damals ging. Dieser Gedanke war sofort präsent. Das hat meine Entscheidung letztlich beeinflusst.“
Das Zitat ist eine gute Basis für die Analyse von Bernds Entscheidung, denn die Antworten, die er mir im Interview auf meine Fragen gab, bestätigten diesen Eindruck:
Bernd hat die Entscheidung, die Therapie mit Evolocumab abzubrechen, aus dem Bauch heraus getroffen.
Solche Bauchentscheidungen basieren häufig auf Heuristiken – also mentalen Abkürzungen, die schnelle und einfache Urteile ermöglichen, ohne aufwendig nachzudenken. Heuristiken sind in vielen Alltagssituationen hilfreich, können aber in komplexen medizinischen Kontexten zu Fehleinschätzungen führen.
Im Fall von Bernd spricht vieles dafür, dass die Verfügbarkeitsheuristik eine zentrale Rolle spielte: Im Gespräch verwies er mehrfach auf seine negativen Erfahrungen mit dem Statin, insbesondere auf die damals empfundene Schwäche und Antriebslosigkeit. Diese Erinnerungen waren für ihn emotional aufgeladen und unmittelbar präsent – und dominierten seine aktuelle Bewertung von Evolocumab, obwohl es sich um ein anderes Medikament mit anderem Wirkmechanismus und besserer Verträglichkeit handelt.
Die Verfügbarkeit dieser früheren Erfahrung hat seine Entscheidungsfindung stark beeinflusst – nicht weil sie rational relevant war, sondern weil sie leicht abrufbar war und sich stark anfühlte.
Die Verfügbarkeitsheuristik
Die Verfügbarkeitsheuristik ist eine mentale Abkürzung, bei der Menschen die Wahrscheinlichkeit oder Bedeutung eines Ereignisses danach beurteilen, wie leicht ihnen ein passendes Beispiel einfällt. Je präsenter oder emotionaler eine Erinnerung ist, desto relevanter erscheint sie – unabhängig davon, wie objektiv bedeutsam sie tatsächlich ist.
Beschrieben wurde dieses Prinzip in den 1970er Jahren von Amos Tversky und Daniel Kahneman, die mit ihrer Forschung zu Denkfehlern unser Verständnis menschlicher Entscheidungen revolutionierten.
Die Verfügbarkeitsheuristik kann im Alltag nützlich sein, weil sie schnelle Einschätzungen ermöglicht. Gleichzeitig birgt sie das Risiko von systematischen Fehleinschätzungen – etwa wenn ein Patient eine neue Therapie ablehnt, nur weil ihm eine negative Erfahrung mit einem ganz anderen Medikament sofort in den Sinn kommt.
Ein typisches Beispiel: Wer sich an einen Flugzeugabsturz aus den Nachrichten erinnert, schätzt das Flugrisiko oft zu hoch ein – obwohl das Auto objektiv gefährlicher ist. Was emotional verfügbar ist, fühlt sich relevanter an – auch wenn es das nicht ist.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Gute Entscheidungen brauchen Kopf und Bauch
Viele medizinische Entscheidungen erscheinen auf den ersten Blick rational: Blutwerte, Leitlinien, Risiken und Nutzen. Doch wer genauer hinsieht – sei es im Arztzimmer oder im Gespräch mit Patientinnen und Patienten – merkt schnell: Entscheidungen im Gesundheitskontext folgen selten nur dem Verstand. Sie sind immer auch geprägt von Erfahrungen, Ängsten, Hoffnungen – kurz: vom Bauchgefühl.
Das ist nicht per se ein Fehler. Intuition, geprägt durch Erlebtes, kann wichtige Hinweise geben. Sie hilft uns, schnell zu reagieren, uns zu schützen oder Warnsignale zu deuten. Doch sie kann auch täuschen – etwa wenn eine belastende Erinnerung an ein früheres Medikament dazu führt, dass eine ganz andere, objektiv sinnvolle Therapie abgelehnt wird. In solchen Momenten überlagert die emotionale Verfügbarkeit eines negativen Erlebnisses die nüchternen Fakten. Das zeigt sich eindrücklich im Fall von Bernd K., der eine moderne Cholesterinsenkung zunächst abbrach – nicht aus rationalen Gründen, sondern weil ihn die Erinnerung an eine frühere Statintherapie emotional blockierte.
Damit Entscheidungen tragfähig sind, müssen sie beides integrieren: die kognitiven Grundlagen und das emotionale Erleben. Gute Medizin hilft dabei, beides zu verbinden – indem sie nicht nur informiert, sondern auch verständlich macht, zuhört, und die emotionale Logik der Patient:innen ernst nimmt.
Denn eine Entscheidung fühlt sich nur dann stimmig an – und wird dann auch mitgetragen – wenn Kopf und Bauch gemeinsam entscheiden.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
