Hannah B. und der Priming-Effekt

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- sich vornehmen, eine Entscheidung in ihrem gesundheitlichen Interesse zu treffen, aber dabei unbewusst von äußeren Reizen in eine andere Richtung gelenkt werden,
- sich durch bestimmte Bilder, Worte oder Stimmungen beeinflussen lassen – ohne zu merken, dass sie gerade von ihrem eigentlichen Ziel abweichen.
Das Poster erinnert daran:
Behalten Sie Ihr persönliches Gesundheitsziel im Auge. Lassen Sie sich nicht von äußeren Reizen unbemerkt in eine Richtung schieben, die Sie eigentlich nicht wollten.
Unsere Empfehlung an Ärzte und Apotheker: Geben Sie den Patienten die Möglichkeit, sich ihrer Ziele bewusst zu werden und sie als zentralen Motivator für die Umsetzung der Therapie zu verankern. Das Poster zeigt z. B. das Ziel von Hannah B.: Ich will meinen Enkel möglichst lange aktiv in ein selbstbestimmtes Leben begleiten.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
Klicken Sie auf den entsprechenden Link und erfahren Sie mehr.
Der Text unter dem Poster
Mark Twain soll einmal gesagt haben „Nachdem wir unsere Ziele endgültig aus den Augen verloren haben, verdoppelten sich unsere Anstrengungen“. Welches Ziel haben Sie vor Augen? Oder sind es vielleicht sogar mehrere Ziele? Haben Sie Ihre Ziele klar formuliert oder sind sie nur als vage Gedanken in Ihrem Kopf?
Insbesondere bei unseren Gesprächen mit Patientinnen und Patienten, bei denen die Therapie Monate oder gar Jahre dauert, stellen wir immer wieder eine gewisse „Therapiemüdigkeit“ fest. Dieses Phänomen kommt unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass sie nachlässiger mit der Einnahme ihrer Medikamente werden oder die Therapie sogar abbrechen. Die häufigste Ursache dafür ist, dass sie keine konkreten Ziele vor Augen oder ihre Ziele aus den Augen verloren haben. Bei vielen dieser Patienten verdoppeln sich am Ende tatsächlich die Anstrengungen.
Deshalb sprechen Sie uns an, wenn Sie sich in diesen Zeilen wiederfinden. Wir helfen Ihnen bei der Wiederentdeckung Ihrer Ziele. Erleben Sie, wie viel Energie Ihnen klar formulierte Ziele geben können.
Hannah hat mich kontaktiert. Ich habe mich mit ihr getroffen.
Hannahs „Geschichte“
Hannah hat seit Jahren ein Glaukom, das mit Augentropfen behandelt wurde, um den Augeninnendruck zu senken und den Sehnerv zu schützen. Aufgrund starker Nebenwirkungen wie Juckreiz und Schwellungen setzte sie die Tropfen eigenmächtig ab. Der Kontakt mit einer ebenfalls betroffenen Freundin, deren Sehkraft sich durch den Verzicht auf medizinische Behandlung stark verschlechtert hatte, motivierte Hannah, wieder einen Augenarzt aufzusuchen.
Der neue Arzt stellte fest, dass das Glaukom weiter fortgeschritten war, obwohl Hannah noch keine Symptome bemerkte. Da sie die Tropfen weiterhin ablehnte, nutzte der Arzt das „Health Belief Modell“, um Hannah zu motivieren. Er half ihr, persönliche Ziele wie das Erleben des Lebens ihres Enkels oder eine Reise nach Südamerika mit der Notwendigkeit guter Sehkraft zu verknüpfen.
In einer Entscheidungs-Matrix definierte Hannah anschließend ihre wichtigsten Kriterien für die Medikamentenwahl: gute Verträglichkeit, Wirkungssicherheit, geringe Langzeitfolgen und wenig Chemie. Gemeinsam mit dem Arzt bewertete sie zwei Optionen: das Prostaglandin, dass am Anfang ihrer Erkrankung schon einmal eingenommen hatte und ein anderes Prostaglandin, das im Gegensatz zu dem ersten keine Konservierungsmittel enthielt. Die Berechnung des Nutzwerts zeigte klar, dass die konservierungsmittelfreie Variante für Hannah die beste Option ist. Hannah entschied sich überzeugt für das neue Medikament und versprach, es regelmäßig zu nehmen und bei Problemen Rückmeldung zu geben.
Hannahs Arzt entschied sich für diese Strategie, weil er den Priming-Effekt kannte.
Wie Priming Patientenentscheidungen beeinflusst
Ärzte erleben immer wieder, dass Patientinnen und Patienten ein Medikament ablehnen und das mit der Sorge vor Nebenwirkungen begründen. Oftmals hat das, was der Patient sagt, überhaupt nichts mit dem Medikament zu tun, das verordnet werden soll. Ein Grund dafür ist der Priming-Effekt. Ein typisches Beispiel: Ein Patient sieht einen Bericht über die Nebenwirkungen eines Medikamentes im Fernsehen. Dabei ging es allerdings um ein ganz anderes Medikament. Der Patient differenziert das allerdings nicht. Er verbindet Medikament mit Gefahr. Der „Reiz“, ein Medikament zu verschreiben, setzt bei dem Patienten eine (falsche) Kaskade von Gedanken in Gang, die zur Ablehnung des Medikamentes oder noch öfter dazu führt, dass der Patient das Rezept gar nicht einlöst, ohne den Arzt zu informieren.
Augenärzte z. B. stellen sogar immer wieder fest, dass manche Glaukom-Patienten ihre Augentropfen nur jeweils kurz vor dem nächsten Termin nehmen, damit die Messung des Augeninnendrucks normale Werte anzeigt. Anschließend setzen sie das Medikament wieder ab.
Hannahs Fall war etwas anders gelagert. Ihr Priming basierte auf den konkreten und realen Erfahrungen, die sie mit Augentropfen gemacht hat, die sie vor dem Verlust ihrer Sehkraft schützen sollten. Sie empfand die Nebenwirkungen als so unangenehm, dass sie sogar den Verlust ihrer Sehkraft in Kauf nahm, wenngleich sie davon überzeugt war, dass es nicht dazu kommen würde. Der Kontakt mit ihrer Freundin brachte diese Überzeugung ins Wanken. Ihr Augenarzt fand einen Weg, Hannah zur richtigen Entscheidung zu führen.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Wissenswertes über den Primingeffekt
Der Priming-Effekt beschreibt ein psychologisches Phänomen, bei dem ein Reiz – etwa ein Wort, ein Bild oder ein Geruch – unsere anschließenden Gedanken, Wahrnehmungen oder Entscheidungen unbewusst beeinflusst. Begriffsprägend waren die Arbeiten von John Bargh und Kolleg:innen in den 1990er-Jahren, die zeigten, wie stark Menschen auf unterschwellige Reize reagieren – ohne es zu merken.
Priming funktioniert, indem bestimmte Inhalte im Gedächtnis „voraktiviert“ werden. Diese beeinflussen dann, wie wir neue Informationen aufnehmen, wie wir urteilen oder handeln. Dabei läuft der Prozess automatisch und unbewusst ab.
Hier einige konkrete, alltagsnahe Beispiele für den Priming-Effekt, die zeigen, wie subtil unsere Entscheidungen durch unbewusste Reize beeinflusst werden können:
1. Supermarkt – Duft von frischem Brot
- Priming-Reiz: Der Geruch von frisch gebackenem Brot am Eingang
- Wirkung: Löst ein Gefühl von Frische, Heimat und Wohlbefinden aus
- Entscheidungsfolge: Kunden bleiben länger, kaufen tendenziell mehr (auch Dinge, die nicht auf der Liste standen)
2. Wahlkabine in einer Schule
- Priming-Reiz: Ort – die Wahl findet in einer Schule statt
- Wirkung: Aktiviert unbewusst Assoziationen zu Bildung
- Entscheidungsfolge: Wähler:innen bevorzugen tendenziell Kandidat:innen, die Bildungspolitik betonen (nachgewiesen in Feldexperimenten)
3. Sauberkeits-Priming
- Priming-Reiz: Leichter Geruch nach Reinigungsmittel im Raum
- Wirkung: Unbewusstes Aktivieren von Ordnung und Hygiene
- Entscheidungsfolge: Menschen lassen weniger Müll liegen, verhalten sich disziplinierter (z. B. in Wartezimmern oder bei Befragungen)
4. Familienfoto im Büro
- Priming-Reiz: Bild der eigenen Kinder auf dem Schreibtisch
- Wirkung: Emotionale Aktivierung von Fürsorge und Verantwortung
- Entscheidungsfolge: Entscheidungen (z. B. Personalgespräche) fallen oft weicher oder verständnisvoller aus
5. Arztpraxis
Auch medizinische Entscheidungen sind anfällig für Priming. Ein Beispiel: Wird eine Therapie als „chemisch“ bezeichnet, wird sie skeptischer bewertet als eine gleich wirksame „natürliche“ Option – selbst bei identischen Inhaltsstoffen. Ein weiteres Beispiel:
- Priming-Reiz: Die Frage „Möchten Sie die Spritze?“ vs. „Wollen wir Sie damit gut schützen?“
- Wirkung: Die erste Formulierung aktiviert Angst, die zweite Sicherheit
- Entscheidungsfolge: Gleiche Behandlung – unterschiedliche Akzeptanz
Patienten wie auch Ärzt:innen sollten sich bewusst sein, dass der Kontext, in dem Informationen präsentiert werden, ihre Entscheidung unbewusst steuern kann.
So hat Hannahs Arzt den Primingeffekt ausgehebelt
1. Reframing durch persönliche Zielverknüpfung
Statt direkt über Medikamente oder Risiken zu sprechen, aktivierte er Hannahs intrinsische Motive – also das, was für sie persönlich Bedeutung hat (z. B. ihre Enkel, eine geplante Reise).
Das verschob ihren inneren Fokus: Weg von unangenehmen Nebenwirkungen, hin zu bedeutsamen Lebenszielen, die eine gute Sehkraft voraussetzen.
Das unterbricht die durch negative Erfahrungen geprägte kognitive Spur, die ursprünglich durch die Tropfen-Nebenwirkungen (also durch Priming) angelegt wurde.
2. Kognitive Neubewertung durch Entscheidungs-Matrix
Statt Hannah einfach ein neues Medikament „zu verordnen“, wurde sie aktiv in einen strukturierten Bewertungsprozess eingebunden:
- Sie definierte selbst, was für sie wichtig ist (Verträglichkeit, geringe Chemie etc.).
- Gemeinsam mit dem Arzt wurden zwei konkrete Optionen nach ihren eigenen Kriterien verglichen.
- Der daraus berechnete Nutzwert zeigte objektiv, dass es eine bessere, verträglichere Alternative gibt.
Diese systematische Bewertung ersetzt automatisierte, emotional geladene Assoziationen durch eine bewusste, rationale Entscheidung.
So wurde der Priming-Effekt durch eine neue, positiv bewertete Erfahrung überlagert, in der Hannah selbst das Steuer in der Hand hatte.
Die Matrix können Sie hier downloaden.
Fazit
Hannahs Arzt hat den Priming-Effekt nicht ignoriert, sondern durch aktives Gegensteuern „entkräftet“ – und zwar:
- durch emotionales Reframing mittels persönlicher Motive (Health Belief Model),
- und durch strukturierte, autonome Entscheidungsführung (Entscheidungs-Matrix).
Er hat damit aus einem automatischen, negativ getriggerten Denkprozess einen selbstbestimmten, motivbasierten Entscheidungsprozess gemacht.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
