Jürgen und die verdeckte intentionale Non-Adhärenz

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- dazu neigen, eine begonnene Therapie vorzeitig zu beenden, obwohl medizinisch kein sinnvoller Grund vorliegt,
- sich in ihrer Entscheidungsfreiheit bestärkt fühlen, dabei aber unbewusst gegen die eigene Gesundheit „spielen“,
- meinen, sich klug zu verhalten – tatsächlich aber eine Entscheidung treffen, die die Wirkung der Behandlung selbst aushebelt.
Das Bildmotiv bringt dieses Dilemma auf den Punkt: Ein Schachkönig in Form einer Tropfenflasche wird von der eigenen Figur geschlagen – eine Metapher für die paradoxe Entscheidung, sich selbst auszubremsen. Es lädt ein, innezuhalten, die Folgen der eigenen Entscheidung zu bedenken und unterstützt eine Haltung, die langfristige Gesundheit über kurzfristige Impulse stellt.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster:
Viele Menschen kennen jemanden, der auf einem guten Weg war – mit einem klaren Ziel vor Augen. Und dann kam eine Entscheidung, die plötzlich alles infrage stellen. Außenstehende verstehen oft nicht, warum.
Solche Situationen gibt es auch in der Medizin. Patientinnen und Patienten wünschen sich Heilung, Schutz vor Rückfällen oder ein Leben mit weniger Einschränkungen. Doch manchmal bremsen sie sich selbst aus:
Sie setzen ihre Medikamente ab. Oder sie beenden eine Therapie, obwohl sie hilft. Oft leise und für sich – ohne ein Wort. Wenn Ihnen solche Gedanken vertraut vorkommen: Sprechen Sie uns an. Wir nehmen uns Zeit und suchen gemeinsam nach einer Lösung, die zu Ihrem Leben passt.
Denn eine gute Entscheidung beginnt mit einem offenen Gespräch.
Jürgen hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihr getroffen.
Jürgens „Geschichte“
Jürgen V., 63 Jahre alt, hat ein Glaukom und wurde seit einigen Jahren auf eine Augentropfen-Therapie eingestellt. Sein Ziel ist klar: den Verlust seiner Sehkraft verhindern. Doch obwohl er weiß, wie wichtig die regelmäßige Anwendung ist, nimmt er die Tropfen nur dann konsequent, wenn ein Termin zur Augeninnendruckmessung bevorsteht.
Er spürt immer wieder unangenehme Nebenwirkungen wie Brennen, Rötung und ein Fremdkörpergefühl im Auge – typische Beschwerden, die vom Konservierungsmittel in den Tropfen herrühren. Doch anstatt mit seinem Arzt darüber zu sprechen, zieht er sich zurück und reduziert die Anwendung „still und heimlich“. So bringt er sich ungewollt selbst vom Kurs ab.
Die Analyse von Jürgen Entscheidung
Jürgen spricht nicht über seine Probleme mit den Augentropfen und setzt sie zeitweise sogar ab – obwohl er das Ziel hat, seine Sehkraft zu erhalten. Dieses Verhalten wirkt auf den ersten Blick irrational, lässt sich aber sehr gut durch Erkenntnisse der Verhaltensökonomie erklären:
1. Status-quo-Verzerrung (Status quo bias):
Menschen neigen dazu, den aktuellen Zustand beizubehalten – selbst wenn er suboptimal ist. Für Herrn S. bedeutet das: Lieber die bekannten, unangenehmen Tropfen weiterführen (oder heimlich reduzieren), als den Aufwand oder das Risiko einer Veränderung (z. B. Therapieumstellung) einzugehen.
„Es ist halt unangenehm – aber ich komme schon irgendwie klar.“
2. Konfliktvermeidung & kognitive Dissonanz:
Jürgen spürt einen inneren Widerspruch: Einerseits will er sein Augenlicht schützen, andererseits leiden seine Augen durch die Tropfen. Um die kognitive Dissonanz zu reduzieren, meidet er das Gespräch mit dem Arzt – denn das würde die innere Spannung verstärken.
„Wenn ich es nicht anspreche, muss ich mich auch nicht entscheiden.“
3. Kurzfristiges Denken (Present bias):
Die Nebenwirkungen spürt Jürgen sofort, der Nutzen (Erhalt des Sehvermögens) liegt in der Zukunft. Verhaltensökonomisch bevorzugen Menschen kurzfristige Erleichterung gegenüber langfristigem Gewinn – selbst wenn Letzterer wichtiger ist.
„Heute brennen die Augen – das ist real. Der Schaden kommt vielleicht erst in Jahren.“
4. Verlustaversion – auch auf sozialer Ebene:
Herr S. könnte Angst haben, als „kompliziert“ oder „undankbar“ dazustehen, wenn er die Therapie infrage stellt. Der gefühlte Verlust an Harmonie oder sozialer Sicherheit wiegt für ihn schwerer als der mögliche Gewinn durch ein besseres Medikament.
„Ich will kein Aufhebens machen – ich bin ja kein schwieriger Patient.“
Warum der Arzt das Problem erkannte
und welche Lösung er anbot
Jürgen hatte nie offen gesagt, dass er seine Augentropfen nur unregelmäßig einnimmt. Er kam zuverlässig zu den Kontrollterminen, sein Auftreten war höflich, seine Antworten knapp, aber unauffällig. Doch der Arzt wurde hellhörig: Die gemessenen Augeninnendruckwerte passten nicht zum dokumentierten Einnahmeschema. Auf Nachfrage wich Jürgen aus aus, sagte Sätze wie „Ich nehme sie meistens“ oder „Ich komm schon klar damit“. Das waren Signale – kleine Unstimmigkeiten im Verhalten und in der Sprache –, die auf ein Problem hindeuteten, das nicht direkt angesprochen wurde.
Was der Arzt intuitiv wahrnahm, ist in der Forschung als verdeckte intentionale Nonadhärenz bekannt. Das bedeutet: Der Patient entscheidet sich bewusst, ein Medikament nicht wie verordnet einzunehmen – spricht aber nicht darüber. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Hoffnung, dass es „auch ohne geht“, Angst vor Kritik, Scham, das Gefühl, den Erwartungen nicht zu genügen oder Zweifel am Nutzen des Medikaments.
In Jürgens Fall war es die Kombination aus unangenehmen Nebenwirkungen (hervorgerufen durch das Konservierungsmittel in den Tropfen) und der Annahme, dass man daran ohnehin nichts ändern könne. Er dachte: „Das ist halt so – da muss ich durch.“ Diese stille Annahme führte zu einem gefährlichen Muster: Der Patient schützte sich kurzfristig vor Unwohlsein – und riskierte langfristig seine Sehkraft.
Der Arzt reagierte klug: Er stellte keine Vorwürfe, sondern öffnete das Gespräch. Er fragte:
„Viele Patienten haben Probleme mit der Verträglichkeit der Tropfen – merken Sie da etwas bei sich?“
Das nahm Jürgen die Hürde. Er sprach über das Brennen, über seine Abneigung, die Tropfen zu nehmen, über das schlechte Gewissen. Der Arzt schlug daraufhin eine Lösung vor: ein modernes Präparat ohne Konservierungsmittel, das genauso wirksam ist – aber besser vertragen wird. Herr S. war erleichtert. Seitdem nimmt er seine Tropfen wieder regelmäßig.
Die Lehre daraus: Nicht jeder Therapieabbruch wird ausgesprochen. Aber wer aufmerksam zuhört, gezielt nachfragt und Möglichkeiten anbietet, kann verdeckte Barrieren sichtbar machen – und aus stiller Nonadhärenz eine aktive Mitentscheidung machen.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
