Dieter K. und das schnelle Denken

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Diesen Impuls haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- dazu neigen, spontan auf ihr erstes, automatisches Urteil (System 1) zu vertrauen — zum Beispiel sofort gefragt „Muss ich das Medikament wirklich nehmen?“
- in Entscheidungssituationen zu schnell reagieren, ohne die statistischen Fakten (System 2) hinter möglichen Risiken oder Alternativen bewusst abzuwägen
- sich beim medizinischen Gespräch auf Intuition statt auf hinterlegte Evidenz stützen und dadurch wichtige Entscheidungen verkürzt betrachten
Das Poster visualisiert den Kontrast zwischen „schnellem Denken“ und „langsamem, reflektierten Denken“ – angelehnt an Daniel Kahnemans bekannte System‑1/System‑2‑Unterscheidung. Es lädt dazu ein, im entscheidenden Moment kurz innezuhalten, Denkprozesse bewusst zu kontrollieren und die Informiertheit über mögliche Behandlungsoptionen zu steigern

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster:
Ein Mitarbeiter der Initiative DIE GUTE PATIENTENENTSCHEIDUNG berichtete kürzlich folgenden Fall: Ein Mann sprach ihn auf der Straße an. Er sah ziemlich heruntergekommen aus. Der Mitarbeiter wollte schon abwinken und weitergehen, weil er dachte, der Mann sei ein Bettler, besann sich aber und hörte dem Mann zu. Der Mann wollte tatsächlich kein Geld, sondern er wollte wissen, wo die nächste U-Bahnstation ist. Der Mitarbeiter lebt in einer Großstadt, wo man immer wieder von Menschen angesprochen wird, die um etwas Kleingeld bitten. Würde er in einem Dorf leben, wäre ihm der Gedanke „schon wieder ein Obdachloser, der um Geld bettelt“ nicht so leicht „in den Sinn“ gekommen.
Seine Erfahrung hat ihn zur Entwicklung dieses Posters inspiriert (eine Art Selbstporträt). Es hängt in seinem Büro und soll ihn täglich daran erinnern, immer mal wieder vom schnellen auf das langsame Denken umzuschalten. Denn das schnelle Denken führt uns häufig zu falschen Interpretationen dessen, was wir sehen, hören oder lesen.
Das gilt übrigens auch für Patienten. Wir kennen zahlreiche Geschichten von Patienten, die das vom Arzt verschriebene Arzneimittel ohne Rücksprache einfach abgesetzt haben, weil sie dem schnellen Denken auf den Leim gegangen sind. Wenn Sie etwas sehen, lesen oder hören, das Zweifel an dem Arzneimittel aufkommen lässt, das Ihnen verschrieben wurde, denken Sie langsam und ändern Sie nichts an der Therapie, sondern sprechen Sie ihren Arzt an.
Anmerkung: Wer langsam denkt, begegnet jedem Obdachlosen auf Augenhöhe und schenkt ihm zumindest Aufmerksamkeit, besser noch ein Lächeln.
Dieter hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihm getroffen.
Dieters „Geschichte“
Dieter K. ist 68 Jahre alt. Vor einigen Monaten bekam er die Diagnose Herzschwäche. Er merkte es daran, dass er oft müde war, schlecht Luft bekam und selbst kurze Spaziergänge anstrengend wurden.
Im Krankenhaus wurde er gut eingestellt. Sein Arzt verschrieb ihm ein neues Medikament, das helfen sollte, sein Herz zu entlasten. Das Medikament enthält die beiden Wirkstoffe Sacubitril und Valsartan. Am Anfang fühlte sich Dieter. etwas schlapp und hatte niedrigen Blutdruck. Aber sein Arzt erklärte ihm: „Das ist normal zu Beginn. Wichtig ist, dass Sie es regelmäßig nehmen – auch wenn Sie sich besser fühlen.“
Nach ein paar Wochen ging es Dieter tatsächlich besser. Er konnte wieder längere Wege gehen, fühlte sich stabil. Doch dann dachte er sich: „Wozu soll ich die Tablette noch nehmen? Mir geht’s ja wieder gut. Und am Anfang war’s mir eh nicht so recht.“ Ohne mit seinem Arzt zu sprechen, hörte er einfach auf, das Medikament zu nehmen.
Sechs Wochen später verschlechterte sich sein Zustand plötzlich. Er bekam wieder schlecht Luft, das Herz schaffte es nicht mehr, genug Kraft aufzubringen. Herr K. musste ins Krankenhaus – seine Herzschwäche hatte sich wieder deutlich verschlimmert.
Dieter hat mich auf Anraten seines Arztes kontaktiert. Er war gerne dazu bereit, weil er wollte, dass andere Patienten den Fehler nicht begehen, den er im Rahmen seiner Entscheidung gemacht hat.
„Mir ging’s ja wieder gut …“ – Wenn das schnelle Denken zu voreiligen Entscheidungen führt
Mein Interview mit Dieter, legt den Rückschluss nahe, dass er dem sogenannten schnellen Denken auf den Leim gegangen ist – einem Denkmodus, der intuitive, gefühlsgeleitete und oft voreilige Entscheidungen produziert.
Der amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt das „schnelle Denken“ als einen Modus des Gehirns, der automatisch, mühelos und auf der Basis von Erfahrungen, Emotionen und einfachen Regeln arbeitet. Es ist effizient, aber auch anfällig für kognitive Verzerrungen und Fehlschlüsse – insbesondere in komplexen Entscheidungssituationen wie der langfristigen Einnahme von Medikamenten.
Im Fall von Dieter war der zentrale Impuls, das Medikament, das subjektive Gefühl: „Es geht mir doch wieder besser.“
Dieses intuitive Urteil – typisch für das schnelle Denken – ließ ihn fälschlicherweise annehmen, das Medikament sei nicht mehr nötig. In Wahrheit war die Besserung gerade der Wirkung des Medikaments zu verdanken, und das eigenmächtige Absetzen führte schließlich zu einer erneuten Verschlechterung seines Zustands.
Hinzu kamen zwei weitere Faktoren, die das schnelle Denken in seiner Entscheidung bestärkten:
Einseitige Informationen über das Medikament – Er hatte sich „im Internet“ informiert und stieß dort auf Berichte über Nebenwirkungen, ohne diese einordnen zu können. Statt einer rationalen Abwägung dominierte das intuitive Misstrauen.
Eine allgemeine Skepsis gegenüber Medikamenten – Dieter äußerte mehrmals, dass er „nicht der Typ sei, der gern Tabletten nimmt“. Dieses Grundgefühl führte zur affektiven Abwertung der Therapie.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Diese Dynamiken werden auch durch die Ergebnisse einer Studie von Rasmussen et al. gestützt [1]. Die Autoren zeigen, dass die selbstberichtete Lebensqualität von Patient:innen mit Herzinsuffizienz in engem Zusammenhang mit der Therapietreue steht: Patienten, die sich besser fühlen, neigen eher dazu, ihre Medikation eigenmächtig zu verändern oder abzusetzen – insbesondere dann, wenn sie sich nicht ausreichend über den langfristigen Nutzen informiert oder in Entscheidungen eingebunden fühlen.
Das Problem der verdeckten Non-Adhärenz
Manchmal setzen Patientinnen und Patienten ein Medikament ab, ohne ihren Arzt oder ihre Ärztin darüber zu informieren. Vielleicht, weil sie sich besser fühlen, Nebenwirkungen spüren oder innerlich skeptisch sind – oder weil sie denken, es sei „nicht so schlimm“.
Doch genau das ist riskant: Wenn Medikamente abgesetzt werden, ohne dass der Arzt es weiß, kann die Behandlung nicht mehr richtig wirken – und es kann zu ernsten Rückfällen kommen.
Außerdem kann der Arzt dadurch falsche Rückschlüsse ziehen: Er sieht, dass sich der Zustand verschlechtert, obwohl das Medikament vermeintlich eingenommen wird – und könnte deshalb die falsche Therapieentscheidung treffen, etwa die Dosis erhöhen oder ein neues Medikament verordnen, das gar nicht nötig wäre.
Deshalb gilt: Ehrlichkeit ist entscheidend – nicht um zu „gehorchen“, sondern um gemeinsam die beste Lösung für Ihre Gesundheit zu finden.
Meine Empfehlungen an Dieters Arzt und an Dieter:
Nachdem mich Dieter kontaktiert und seinen Arzt darüber informiert hat, hat mich auch Dieters Arzt kontaktiert und wollte wissen, welche Empfehlungen sich für ihn aus dem Fall ableiten lassen. Ich habe ihm dazu folgende Zusammenfassung gegeben:
1. Adhärenz braucht Emotion, nicht nur Aufklärung
Viele Patient:innen entscheiden nicht aufgrund rationaler Argumente, sondern aus einem Gefühl heraus.
Nutzen und Notwendigkeit der Medikation sollten deshalb nicht nur sachlich, sondern auch emotional vermittelt werden – etwa durch Formulierungen wie: „Dieses Medikament schützt Ihr Herz – auch wenn Sie es nicht direkt spüren.“ So wird System 1 nicht ignoriert, sondern gezielt angesprochen.
2. Warnen vor dem Trugschluss „Mir geht’s wieder gut“
Die häufigste intuitive Fehlannahme lautet: „Wenn es mir besser geht, brauche ich das Medikament nicht mehr.“
Sprechen Sie diesen Gedanken aktiv an – am besten bevor er entsteht: „Gerade weil Sie sich besser fühlen, ist es wichtig, das Medikament weiterzunehmen – denn das ist ein gutes Zeichen, dass es wirkt.“
3. Psychosoziale Belastung aktiv erfragen
Niedrige Lebensqualität oder depressive Symptome erhöhen nachweislich das Risiko für Non-Adhärenz.
Stellen Sie gezielte Fragen wie: „Wie kommen Sie im Alltag mit Ihrer Erkrankung zurecht?“ oder „Haben Sie sich in letzter Zeit häufiger niedergeschlagen gefühlt?“
Instrumente wie EQ-5D oder HADS können zusätzlich unterstützen, gefährdete Patienten frühzeitig zu erkennen.
4. „Absetzimpulse“ erkennen – auch wenn sie nicht geäußert werden
Herr K. hat das Absetzen des Medikaments verschwiegen – aus einem Gefühl heraus, es „besser zu wissen“. Auf meine Frage, warum er geschwiegen hat, meinte er er wüsste doch sowieso, was ihm sein Arzt sagen würde. Dieses Verhalten ist nicht selten: Viele Patient:innen treffen Entscheidungen still für sich, ohne Rücksprache – aus Scham, Misstrauen oder dem Wunsch nach Autonomie.
Deshalb ist es wichtig, regelmäßig und offen nachzufragen, z. B.: „Haben Sie in letzter Zeit mal darüber nachgedacht, das Medikament wegzulassen – oder es vielleicht schon getan?“
Ein vertrauensvoller Raum für solche Eingeständnisse kann helfen, riskante Entscheidungen rechtzeitig zu erkennen.
In Dieters Fall hätte die direkte Frage nach der Einnahmetreue vermutlich nicht zu einem Bekenntnis des Patienten geführt. Auch das ist nicht selten, sondern eher die Regel. In solchen fällen eignen sich indirekte Fragen, wie z. B.
- „Manche Patienten setzen Medikamente auch mal selbstständig ab – zum Beispiel wenn sie sich besser fühlen oder Nebenwirkungen haben. Ist das bei Ihnen auch schon mal ein Thema gewesen?“
- „Wie gehen Sie damit um, wenn Sie das Gefühl haben, ein Medikament passt nicht mehr zu Ihnen?“
- „Es kommt manchmal vor, dass Medikamente einfach weggelassen werden – aus Unsicherheit oder weil man sie nicht mehr für nötig hält. Wie ist das bei Ihnen?“
- „Wenn jemand Medikamente einfach weglässt – was glauben Sie, was sind da meistens die Gründe?“
Diese Fragen vermeiden Schuldzuweisung und ermöglichen es dem Patienten, auch heikle Entscheidungen offen anzusprechen – ohne das Gefühl zu haben, sich rechtfertigen zu müssen
Mein Rat an Dieter
Unser Gehirn denkt oft schnell, automatisch und gefühlsgeleitet – besonders in Alltagssituationen. Dieses „schnelle Denken“ hilft uns im Alltag, kann aber bei Gesundheitsfragen zu vorschnellen oder fehlerhaften Entscheidungen führen. Wer dieses Prinzip kennt, kann bewusst innehalten:
„Treffe ich diese Entscheidung gerade, weil sie sich richtig anfühlt – oder weil ich sie gut durchdacht habe?“
Schon dieser kurze Moment des Nachdenkens hilft, impulsive Fehler zu vermeiden – und klügere, langfristig gesunde Entscheidungen zu treffen.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.

Quelle:
[1] Rasmussen A. A., Wiggers H., Jensen M., Berg S. K., Rasmussen T. B., Borregaard B. u. a. (2021): Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. European Heart Journal – Cardiovascular Pharmacotherapy 7(4), 287 – 295; DOI:10.1093/ehjcvp/pvaa097.