Knupt P. und unsere voreiligen Rückschlüsse

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- ihre aktuelle Therapie schon lange einnehmen und sich dabei grundsätzlich sicher fühlen,
- dennoch immer wieder Zweifel oder Sorgen über Nebenwirkungen oder bessere Alternativen haben,
- sich bisher nicht trauen, ihre Fragen oder Bedenken aktiv im Arztgespräch anzusprechen.
Insgesamt verbindet das Poster Humor, Philosophie und Psychologie, um auf augenzwinkernde, aber wirkungsvolle Weise zur Reflexion anzuregen – und Mut zu machen, Neues in Erwägung zu ziehen.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster:
Die Basis jeder Entscheidung ist die Beurteilung von Informationen. Informationen sind das, was wir lesen, höhren, sehen und alles, was wir mit unseren Sinnen aus unserer Umgebung wahrnehmen. Diese Informationen bewerten wir und ziehen daraus Schlussfolgerungen. Diese Schlussfolgerungen sind die Grundlage der Entscheidungen, die wir treffen.
Eine häufig genutzte Form des Schlussfolgerns wird als „Induktion“ bezeichnet. Induktion heißt, man leitet ein Urteil aus Einzelbeobachtungen ab. Ein Beispiel.
Beobachtung: In der Arztpraxis geht es heute aber hektisch zu. Als der Arzt gerade an der Anmeldung war, hat er mich nicht mal angeschaut.
Urteil: Also hat er heute kein offenes Ohr für meine Sorgen.
Entscheidung: Ich spreche ihn wieder nicht darauf an, dass ich Bedenken habe, das Medikament einzunehmen, das er mir verschrieben hat.
Der Philosoph David Hume z. B. warnt vor induktivem Denken und erklärt seine Skepsis mit dem Beispiel der Weihnachtsgans, die jeden Tag gefüttert wird. Ihr Induktionsschluss, der sich aus ihrer Beobachtung ergibt, ist, dass sie in einer Welt lebt, wo man es gut mit ihr meint.
Knut hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihm getroffen.
Knuts „Geschichte“
Knut erkrankte vor mehr als 10 Jahren an HIV. Damals war die Erkrankung, anders als noch in den 90iger Jahren, zwar kein Todesurteil mehr, aber die Diagnose veränderte vieles in Knuts Leben schlagartig. Er fand zum Glück schnell einen Arzt, der die nötige Kompetenz hatte, ihn über die folgenden Jahre zu begleiten und zu dem er schnell ein Vertrauensverhältnis aufbaute.
Die Therapie, die aus einer Kombination von drei verschiedenen Wirkstoffen bestand, zeigte bald erste Erfolge. Seit dem Ende der ersten Phase einer intensiver Betreuung, erscheint Knut alle 3 Monate zur Kontrolle in der Praxis. Längst kann Knut mit der Erkrankung ein nahezu normales Leben führen.
In letzter Zeit macht sich Knut allerdings zunehmend Sorgen. Seine Gedanken kreisen mehr und mehr um die Tatsache, dass er ja nicht geheilt ist, sondern dass die Medikamente das Virus nur in Schach halten. Das heißt, er muss die Medikamente vermutlich sein ganzes Leben lang einnehmen. Während er sich früher mehr Sorgen darüber gemacht hat, dass sich das Virus der Kontrolle der Medikamente wieder entziehen könnte, steht nun eher die Sorge über die langfristigen Folgen der Medikamente im Vordergrund.
Knuts Partner hat ihn immer wieder gebeten, seinen Arzt darauf anzusprechen. Er hat auch für ihn im Internet recherchiert und gelesen, dass es inzwischen viel modernere Medikamente gibt, Medikamente, die nur noch einen Wirkstoff enthalten und die man nur einmal am Tag einnehmen muss. Knut wusste das natürlich auch, wollte aber von einer Umstellung seiner Therapie nichts wissen.
Was mir Knut erzählte
Ich lebe nun seit 10 Jahren mit der HIV-Erkrankung, mit dem Virus und mit den Medikamenten, die das Virus in Schach halten. Natürlich macht man sich ständig Gedanken, wenn ein Damoklesschwert wie das HIV-Virus über einem schwebt. Auch wenn die Therapie wirkt, ist das Virus eine ständige Bedrohung.
Allerdings haben sich meine Gedanken in letzter Zeit in eine etwas andere Richtung entwickelt. Mehr Sorgen machen mir jetzt die möglichen Folgen der Therapie. Ich muss die Medikamente mein ganzes Leben lang nehmen. Jeden Tag. Wenn man sich die möglichen Nebenwirkungen der drei Wirkstoffe durchliest, kann einem ganz schwindelig werden.
Ich gehe einmal pro Quartal zur Kontrolluntersuchung. Seit zwei Jahren habe ich mir vorgenommen, meinen Arzt darauf anzusprechen. Aber immer wieder fand ich ein Argument, warum es gerade dieses Mal nicht passt.
Als ich dann beim letzten Besuch das Poster mit den Gänsen im Wartezimmer sah, habe ich mir ein Herz gefasst. Das war die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe. Der Arzt hat mich davon überzeugt, endlich die Therapie umzustellen.
Heute geht es mir mit der neuen Therapie, die nur noch einen Wirkstoff hat, genauso gut wie mit der Dreierkombination, allerdings mit dem Unterschied, dass ich mir keine Sorgen mehr über mögliche Langzeitfolgen mache.
Die Analyse von Knuts Entscheidung
Oberflächlich betrachtet, geht es in Knuts Geschichte um die Entscheidung, ob er seinen Arzt auf seine Sorgen hinsichtlich der Langzeitfolgen seiner Medikamente ansprechen soll oder nicht. Bei genauerer Betrachtung geht es um eine ganz andere Entscheidung. Knut wusste, dass es inzwischen modernere Therapien gibt, die allein schon deshalb eine geringere Belastung waren, weil sie nur noch aus einer Wirksubstanz bestanden (und nicht mehr aus drei Wirkstoffen, die Knut täglich einnahm).
Der vorgeschobene Grund, warum Knut seinen Arzt nicht auf seine Sorgen ansprach:
Die vordergründige Entscheidung ist schnell analysiert. Knut hatte bei jedem Arztbesuch eine andere Begründung, warum es dieses Mal nicht passend wäre, seinen Arzt jenseits der Routine der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen auf seine Sorgen anzusprechen. Mal redete er sich ein, dass das den Arzt sowieso nicht interessiere, mal war es das volle Wartezimmer und ein anderes Mal war es die Hektik, die gerade in der Praxis ausgebrochen war.
Knut nahm die Signale der Praxis war und zog daraus den Rückschluss, dass es besser sei, die Sorgen beim nächsten Termin anzusprechen – wohlwissend, dass er es doch nicht tun würde. Aus einer Beobachtung einen Rückschluss zu ziehen und ihn für allgemeingültig zu erklären, wird als Induktion bezeichnet.
Induktives Denken kann man auch als „verallgemeinerndes Denken“ bezeichnen. Es mag in vielen Fällen angebracht sein, aber zumindest die Beobachtung, dass es in einer Arztpraxis hektisch zugeht, lässt nicht den allgemeinen Rückschluss zu, dass der Arzt kein offenes Ohr für die Sorgen hat, die sich ein Patient um die möglichen Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen des Arzneimittels macht.
Insgesamt kann man sagen, dass man mit induktiven Rückschlüssen vorsichtig sein sollte. Die Methode wird, wie in Knuts Fall, allzu gern an genutzt, um eine Entscheidung zu rechtfertigen, die man längst getroffen hat. Damit bin ich bei dem Punkt angekommen, worum es in Knuts Geschichte eigentlich geht: Die Ablehnung der Umstellung auf eine andere Therapie.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Wie sich die Verlustaversion auf Patientenentscheidungen auswirkt
Knut wusste, dass seine Medikamente inzwischen in die Jahre gekommen sind und dass es längst bessere Alternativen gibt. Die spannende Frage ist, warum Knut trotzdem keine Veränderung seiner Therapie wollte. Dazu sagte er bei unserem Treffen:
Auch wenn die Diagnose HIV vor 10 Jahren längst kein Todesurteil mehr war, so war sie doch ein Schock. Mein Arzt verschrieb mir die modernsten Medikamente, die es damals gab. Ich kann mich noch gut an die ersten Wochen unter der Therapie erinnern. Sie war begleitet von der ständigen Sorge, ob die Viruslast wirklich zurückgeht und ob sie niedrig bleibt. Außerdem hatte ich mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen, die mit der Zeit allerdings nachließen. Heute bin ich frei von Nebenwirkungen, und das Virus ist nicht aktiv. Auch wenn mir mein Arzt versichert, dass die neueren Medikamente mindestens so zuverlässig wirken, so sehe ich doch in der Therapieumstellung ein Risikoch lebe nun seit 10 Jahren mit der HIV-Erkrankung, mit dem Virus und mit den Medikamenten, die das Virus in Schach halten. Natürlich macht man sich ständig Gedanken, wenn ein Damoklesschwert wie das HIV-Virus über einem schwebt. Auch wenn die Therapie wirkt, ist das Virus eine ständige Bedrohung.
Knuts Sorge ist mit einem Phänomen zu erklären, das die Entscheidungswissenschaften als „Verlustaversion“ bezeichnen. Die Kernaussage der Verlustaversion ist, dass ein Verlust ein viel höheres emotionales Gewicht hat, als ein Gewinn in gleicher Höhe. Wenn Sie z. B. einhundert Euro zufällig auf einer Parkbank finden, freuen Sie sich. Wenn es ein Maß für Freude oder Ärger gäbe, wäre Ihr Ärger etwa doppelt so groß, wenn Ihnen der gleiche Betrag auf der Parkbank aus der Tasche gefallen wäre. Es gibt noch eine zweite Erkenntnis, die uns die Erforschung der Verlustaversion gebracht hat. Wie sehr Sie sich freuen oder ärgern, hängt von dem sogenannten Referenzpunkt ab, von dem aus Sie den Gewinn oder den Verlust betrachten. Sind sie Millionär werden Sie sich über die 100 Euro eher weniger freuen oder ärgern als ein Mensch, der jeden Euro zweimal umdrehen muss, bevor er ihn ausgibt.

Die Entscheidung, die Knut zu treffen hatte, gehört zu der Gruppe der „gemischten Entscheidungen“. Gemischte Entscheidungen sind Entscheidungen, bei denen man etwas gewinnen aber auch etwas verlieren kann. Die Tabelle zeigt einige typische Bespiele für gemischte Entscheidungen.
Um Knuts Vorbehalte gegen eine Umstellung der Therapie zu verstehen, ist noch ein zweites Charakteristikum von Entscheidungen von Bedeutung: Man kann niemals bei einer Entscheidung vollkommen sicher sein, dass die dahinterstehenden Erwartungen erfüllt werden. Selbst wenn Sie eine Straße bei grüner Fußgängerampel überqueren, gibt es ein Restrisiko, dass Sie nicht heil auf der anderen Straßenseite ankommen.

Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man Knuts Vorbehalt wie folgt begründen: Knut wog die emotionalen Auswirkungen der beiden Optionen gegeneinander ab und kam zu dem Schluss, dass es besser sei, bei der aktuellen Therapie zu bleiben. Sie hatte ein höheres emotionales Gewicht. Das liegt auch an Knuts Referenzpunkt: Er hat viel zu verlieren.

Die Verlustaversion gezielt umkehren!
Viele Patient:innen zögern, eine gut funktionierende Therapie umzustellen – selbst wenn moderne Alternativen klare Vorteile bieten. Ein zentraler Grund dafür ist die Verlustaversion: Der gefühlte Verlust von Sicherheit wiegt oft schwerer als der potenzielle Gewinn. Wer das versteht, kann Veränderungen nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch besser vermitteln. So kann es gehen:
1. Den Spieß umdrehen: Die Nicht-Umstellung als Risiko rahmen
Statt die neue Therapie als „Chance“ zu präsentieren, sollte der Arzt subtil das Verharren beim Alten als potenziellen Verlust darstellen.
Beispiel:
„Ich verstehe, dass Sie sich mit Ihrer jetzigen Therapie sicher fühlen. Aber je länger wir bei dieser älteren Kombination bleiben, desto mehr riskieren wir, dass sich langfristige Nebenwirkungen summieren – und dass wir eine gute Gelegenheit verpassen, Ihre Belastung zu senken.“
2. Sicherheit der neuen Therapie betonen – mit Verweis auf Stabilität
Verlustaversion basiert auf Angst vor Kontrollverlust. Knut braucht die Botschaft: „Du verlierst keine Kontrolle – du bekommst mehr davon.“
Beispiel:
„Die neue Therapie ist nicht nur einfacher, sie ist auch klinisch bewährt. Sie bietet dieselbe Sicherheit – und wir würden Sie engmaschig begleiten, damit Sie merken: Es funktioniert. Sollte irgendetwas nicht passen, kehren wir zurück. Sie verlieren nichts – wir gewinnen nur Optionen.“
3. Die Umstellung als kleine Veränderung mit großem Nutzen framen
Das hilft, die emotionale Hürde zu senken. Statt: „Wir machen alles neu“, eher:
„Wir optimieren etwas, das schon funktioniert.“
Beispiel:
„Es geht nicht darum, etwas zu riskieren – sondern Ihre erfolgreiche Therapie einfacher und körperlich langfristig verträglicher zu gestalten. Das Ziel ist, dass Sie weniger Wirkstoffe brauchen, aber genauso geschützt sind.“
4. Auf seine emotionale Motivation eingehen
Der Arzt sollte Knuts Sorge ernst nehmen – und gleichzeitig eine positive Vision von Kontrolle anbieten.
Beispiel:
„Sie machen sich Gedanken, was in 10 oder 20 Jahren sein wird – das ist verantwortungsvoll. Genau deshalb ist jetzt ein guter Moment, vorausschauend zu handeln. Sie bleiben derjenige, der entscheidet – wir helfen nur, dass Sie dafür die beste Grundlage haben.“
Zusammenfassung der Gesprächslogik
Psychologisches Ziel | Kommunikationsansatz |
Verlustangst reduzieren | Nicht-Umstellung als Risiko rahmen |
Kontrolle erhalten | Neue Therapie als ebenso sicher darstellen |
Veränderungswiderstand abbauen | Kleine Optimierung statt großer Umbruch |
Emotionale Sorgen ernst nehmen | Langfristige Sicherheit in den Vordergrund stellen |
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
