Hermann G. und die richtige Antwort auf die falsche Frage.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- unbewusst eine falsche, leicht zu beantwortende Frage stellen – etwa: „Brauche ich das Medikament noch?“, statt sich der eigentlich entscheidenden Frage zu widmen: „Wie hoch ist mein Risiko mit und ohne Therapie?“
- auf einfache Antworten ausweichen, um komplexe Zusammenhänge zu umgehen – weil sie sich von der medizinischen Information überfordert fühlen oder Unsicherheit vermeiden wollen.
- sich durch diese gedankliche Abkürzung selbst in eine Denkfalle manövrieren, die sie daran hindert, fundierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen.
Das Motiv bringt diesen inneren Kurzschluss auf den Punkt:
Eine Bremse, deren Bremsscheibe eine Tablette ist – als starkes Bild für das bewusste Innehalten. Es lädt Patient:innen ein, gedankliche Abkürzungen zu erkennen, ihr Risiko klarer einzuschätzen – und eine informierte, tragfähige Entscheidung zu treffen.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster
Das Bild zeigt eine Tablette mit einer Bremse – ein Hinweis: Wer ein vom Arzt verschriebenes Arzneimittel nicht einnehmen oder eigenmächtig absetzen will, sollte innerlich auf die Bremse treten.
Viele Patient:innen entscheiden vorschnell, weil sie sich auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen konzentrieren – ohne das tatsächliche Risiko der Erkrankung abzuwägen. Oft geschieht das aus dem Bauch heraus, nicht aus böser Absicht. Ein möglicher Grund: Sie stellen sich nicht die Frage: „Wie hoch ist mein Risiko wenn ich diese Entscheidung treffe?“ Stattdessen ersetzt das Gehirn diese komplexe Frage unbewusst durch eine einfachere, gefühlsbasierte: „Fühle ich mich krank genug für Tabletten?“ oder „Macht mir das Medikament ein ungutes Gefühl?“.
Die richtige Antwort auf die falsche Frage kann schwerwiegende Folgen haben. Wenn Sie Zweifel an einem Arzneimittel haben, das Ihnen verschrieben wurde oder Probleme mit der Einnahme, treffen Sie keine voreilige Entscheidungen sondern sprechen Sie uns an.
Hermann hat mich kontaktiert. Ich habe mich mit ihm getroffen.
Hermanns „Geschichte“
Hermanns Arzt stellte bei Hermann ein erhöhtes Schlaganfallrisiko fest. Er verschrieb ihm ein Medikament, das ihn vor dem Schlaganfall schützen sollte. Anfangs nimmt er es – wenn auch widerwillig – regelmäßig ein. Doch etwas mehr als ein Jahr nach Therapiebeginn setzt er das Arzneimittel eigenmächtig ab, ohne Rücksprache mit seinem Arzt.
Warum? Nicht, weil er wusste, dass das Risiko gering ist. Sondern weil er sich nicht die zentrale Frage gestellt hat:
„Wie hoch ist mein Schlaganfallrisiko mit und ohne das Medikament?“
Diese Frage hätte er weder einschätzen noch beantworten können – sie ist medizinisch und statistisch komplex. Stattdessen stellte er sich unbewusst eine leichtere Frage:
„Brauche ich das Medikament überhaupt noch – wo ich mich doch gut fühle?“
Ein klassischer Fall von Frageersetzung – einer kognitiven Verzerrung, die zeigt, wie Menschen riskante Entscheidungen treffen, ohne es zu merken.
Wenn die Antwort richtig, aber die Frage falsch ist
Die häufigste Ursache falscher Entscheidungen sind Denkfehler bei der Beurteilung von Informationen und sogenannte „kognitive Verzerrungen“. Nach meinem Gespräch mit Hermann G. kam ich zu dem Ergebnis, dass bei ihm mehrere Urteilsfehler eine Rolle spielten. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen, das ihn vor dem Schlaganfall schützen sollte, war, dass er die falsche Frage gestellt hat. Das bezeichnet man als „Substitution“.
Menschen treffen viele Entscheidungen nicht auf Basis der eigentlichen Frage, sondern auf Basis einer anderen – einfacheren. Das geschieht meist unbewusst. Wenn eine Frage zu komplex ist oder uns überfordert, greifen wir intuitiv zu einer Ersatzfrage, die leichter zu beantworten ist.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Urteilsfehler – Wenn Denken in die Irre führt
Urteilsfehler entstehen, wenn Menschen komplexe Informationen nicht vollständig verarbeiten oder sich von Gefühlen, Erfahrungen oder vereinfachten Denkmustern leiten lassen. Sie sind keine Dummheit, sondern typische Denkabkürzungen, die oft unbewusst ablaufen. In der Medizin können solche kognitiven Verzerrungen schwerwiegende Folgen haben – etwa, wenn Patienten notwendige Therapien abbrechen.
Bei Hermann spielten gleich mehrere Urteilsfehler eine Rolle:
- Substitution: Statt die medizinisch entscheidende Frage zu beantworten („Wie hoch ist mein Risiko mit und ohne das Medikament?“), ersetzte Hermann sie durch eine einfachere: „Brauche ich das Medikament überhaupt noch – wo es mir doch gut geht?“
- Verfügbarkeitsheuristik: Weil sich sein Zustand verbessert hatte und ein Schlaganfall ausgeblieben war, schätzte Hermann das Risiko geringer ein – nach dem Motto: „Es ist ja bisher nichts passiert.“
- Gegenwartsverzerrung (Present Bias): Der kurzfristige Gewinn (keine Tablette mehr einnehmen, keine Nebenwirkungen) überwog für ihn das langfristige Risiko eines Schlaganfalls.
- Negativity Bias: Der abschreckende Beipackzettel prägte sich stärker ein als der Nutzen des Medikaments – negative Informationen wirken meist stärker als positive.
Solche Urteilsfehler zeigen, wie schwer es ist, medizinische Entscheidungen rational zu treffen – besonders wenn sie mit Angst, Unsicherheit oder widersprüchlichen Gefühlen verbunden sind. Doch wer die typischen Denkfallen kennt, kann bessere Entscheidungen treffen.
Warum Patienten ein Medikament zunächst einnehmen – und später wieder absetzen
Viele Patienten beginnen eine Therapie motiviert, nehmen das verordnete Medikament regelmäßig ein – doch nach einigen Monaten oder Jahren brechen sie die Behandlung eigenständig ab. Dieses Verhalten ist weit verbreitet und lässt sich nicht einfach mit „Vergesslichkeit“ oder „Widerstand“ erklären. Dahinter stehen häufig psychologische Prozesse, die schleichend wirken:
- Verlustaversion verändert ihren Fokus
Anfangs überwiegt die Angst vor einem gesundheitlichen Verlust – etwa einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Das Medikament wird als Schutz empfunden. Mit der Zeit verschiebt sich jedoch die Wahrnehmung: Nun erscheint das Medikament selbst als Verlust – an Lebensqualität, Selbstständigkeit oder Kontrolle. Was schützt, wird zur Belastung. - Erfolg wird missverstanden
Wenn es einem besser geht oder keine akuten Symptome mehr auftreten, glauben viele Patienten, die Krankheit sei „verschwunden“. Dabei ist oft genau das Medikament der Grund für die Stabilität. Dieser Denkfehler führt dazu, dass die Therapie als überflüssig empfunden wird. - Die Risiken geraten aus dem Blick
Gefahren wie ein Schlaganfall oder Folgeschäden treten meist nicht sofort ein – und sind daher schwer greifbar. Je länger ein solches Ereignis ausbleibt, desto geringer wird das subjektive Risiko eingeschätzt. Aus „Ich will das unbedingt vermeiden“ wird: „So schlimm wird es schon nicht sein.“ - Das Vergessen wird zur Entscheidung
Anfangs wird eine vergessene Tablette als Ausrutscher gesehen. Doch wiederholtes Vergessen kann zum Einstieg in den Ausstieg werden – besonders, wenn keine spürbaren negativen Folgen auftreten. Das Unterlassen wird nachträglich gerechtfertigt.
Meine Empfehlungen an Hermann
Gute Entscheidungen entstehen nicht aus dem Gefühl von Gesundheit, sondern aus dem Verständnis von Risiko.“ Deshalb habe ich ihm folgende Empfehlung gegeben.
1. Die richtige Frage stellen – nicht die bequeme
Du hast unbewusst eine komplexe Frage („Wie hoch ist mein Schlaganfallrisiko mit und ohne Medikament?“) durch eine einfachere ersetzt („Brauche ich das Medikament überhaupt noch?“). Solche Substitutionen sind menschlich – aber gefährlich. Lass dir die eigentliche Risikoabwägung von deinem Arzt erklären. Nur dann triffst du deine Entscheidung auf der richtigen Grundlage. „Wie hoch ist mein Risiko für einen Schlaganfall – mit und ohne Medikament?“ Diese Frage kannst du nicht allein beantworten. Aber du kannst sie deinem Arzt stellen.
2. Besseres Gefühl ist kein Beweis für weniger Risiko
Dass du dich gut fühlst, heißt nicht, dass die Gefahr vorbei ist. Du bist in eine klassische Verfügbarkeitsfalle getappt: Weil der Schlaganfall ausgeblieben ist, scheint er unwahrscheinlicher – obwohl gerade das Medikament ihn womöglich verhindert hat. Vermeide es, den Erfolg der Therapie mit dem Verschwinden des Risikos zu verwechseln. Dein Gefühl („Mir geht’s gut, also brauche ich das Medikament nicht“) ist menschlich – aber trügerisch. Ein Schlaganfall kündigt sich oft nicht an. Das Medikament wirkt nicht, weil du dich krank fühlst, sondern damit du gesund bleibst.
3. Erkenne, wie dein Denken sich mit der Zeit verändert
Du hast das Medikament anfangs aus Sorge genommen – später schien genau dieses Medikament die neue Belastung. Das ist typisch. Was wir als Verlust empfinden, verändert sich. Mach dir bewusst: Wenn sich dein Gefühl zur Therapie verändert, ist das nicht automatisch ein Zeichen dafür, dass sie unnötig geworden ist.
Mein Fazit für Hermann: Je mehr wir über Denkfehler wissen, umso bessere Entscheidungen treffen wir
Unsere Entscheidungen wirken oft logisch – aber sie folgen nicht immer der Logik. In Wahrheit lassen wir uns häufig von Gefühlen, Vereinfachungen und unbewussten Denkabkürzungen leiten. Diese sogenannten kognitiven Verzerrungen helfen uns, im Alltag schnell zu reagieren – doch in wichtigen Situationen, etwa bei Gesundheitsfragen, führen sie leicht in die Irre.
Wer weiß, wie solche Denkfehler funktionieren – etwa die Tendenz, Risiken zu unterschätzen, wenn sie nicht unmittelbar spürbar sind, oder die Gewohnheit, schwierige Fragen durch einfachere zu ersetzen –, kann bewusst gegensteuern. Das bedeutet nicht, dass wir perfekte Entscheidungen treffen – aber bessere: überlegter, informierter, selbstbestimmter.
Aufklärung über Denkfehler ist daher keine Theorie – sie ist praktische Entscheidungshilfe. Besonders in der Medizin, wo es oft um Langzeitwirkungen, Wahrscheinlichkeiten und Risiken geht, ist dieses Wissen ein wichtiger Schlüssel: zu mehr Klarheit, mehr Kontrolle – und besserer Adhärenz.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
