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Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen!
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse fรผr gute Patientenentscheidungen“.
420 von 1.000 befragten Deutschen im Alter zwischen 18 und 80 Jahren versuchen โArzneimittel immer zu vermeidenโ (Quelle Statista Consumer Insights 2023). Nur in Frankreich sind es mehr (45%); in den USA oder Groรbritannien liegt der Anteil bei 28%.
Diese skeptische Grundhaltung gegenรผber Arzneimitteln zeigt sich auch daran, dass zahlreiche Patienten die Arzneimittel, die รrzte ihnen verschreiben, nicht konsequent oder gar nicht einnehmen. Das hat nicht nur Folgen fรผr die betroffenen Patienten, sondern auch fรผr die Gesellschaft. Bei den betroffenen Patienten fรผhrt das Problem z. B. zu vermehrten Komplikationen und Krankenhauseinweisungen oder zu einer lรคngeren Krankheitsdauer. Fรผr die Gesellschaft bedeutet das jรคhrlich Kosten in Milliardenhรถhe, die wir alle mit unseren Krankenkassenbeitrรคgen finanzieren.
Einer der Grรผnde fรผr die skeptische Haltung gegenรผber Arzneimitteln mag daran liegen, dass Sie in den sozialen Medien viele Stimmen hรถren, die mit den unterschiedlichsten Argumenten gegen Arzneimittel wettern. Aber sind die Rรผckschlรผsse richtig, die Sie daraus fรผr Ihr eigenes Verhalten ziehen? Wenn Sie Zweifel an einem Arzneimittel haben, das Ihnen verschrieben wurde oder Probleme mit der Einnahme, treffen Sie keine voreilige Entscheidungen sondern sprechen Sie Ihren Arzt an.

Silvias Geschichte ist ein typisches Beispiel fรผr eine voreilige Entscheidung. Lesen Sie, warum Silvia die Entscheidung getroffen und wie sie ihre Entscheidung ein Jahr spรคter bewertet hat.
Anmerkung: Silvia wollte ihr Foto nicht verรถffentlichen, deshalb ist das Bild ein Platzhalter.
Autor: Peter Jungblut

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Silvias Entscheidung
Silvia hatte schon seit Monaten Schmerzen in den Gelenken. Ihr Arzt stellte eine โrheumatoide Arthritisโ fest und verschrieb ihr Kortison und Methotrexat, ein Medikament aus der Gruppe der Immunmodulatoren. Die rheumatoide Arthritis ist die hรคufigste entzรผndliche Gelenkerkrankung. Bei dieser Erkrankung ist das kรถrpereigene Abwehrsystem (Immunsystem) รผberaktiviert. Das fรผhrt dazu, dass eigene Kรถrperzellen angegriffen werden. Dadurch kommt es zu stรคndigen Entzรผndungen im Kรถrper. Methotrexat wirkt dem entgegen und โmoduliertโ (dรคmpft) das Immunsystem.ย
Wie von ihrem Arzt empfohlen, setzte Silvia das Kortison nach 6 Monaten wieder ab. Weitere zwei Monate spรคter entschied sie sich fรผr eine Methode, die ihr versprach, ihre Erkrankung innerhalb weniger Monate zu besiegen – ohne Medikamente. Methotrexat nahm sie ab sofort auf Empfehlung des โExpertenโ, der ihr die Methode verkaufte, nicht mehr ein. Ihren Arzt, den sie weiterhin regelmรครig konsultierte, informierte sie darรผber nicht. Ein Jahr spรคter wertete sie ihre Entscheidung als Fehler, denn ihre Schmerzen waren stรคrker als je zuvor. Sie sah das oben abgebildete Poster in der Praxis ihres Arztes und rief mich an, um andere Betroffene vor einer รคhnlichen Entscheidung zu bewahren.

Silvias Geschichte*
Haben Sie schon mal den Beipackzettel von Kortison gelesen? Ich habe das getan! Sie kรถnnen mir glauben, ich habe mich sehr schwer damit getan, das Medikament zu nehmen. Aber die Schmerzen waren so stark, dass ich keine Wahl hatte. Dann sollte auch noch dieses Methotrexat hinzukommen. Gut, mein Arzt reduzierte das Kortison und meinte, ich kรถnne bald ganz darauf verzichten, wenn ich Methotrexat nehme. Als ich den Beipackzettel von Methotrexat las, war mein erster Gedanke โDieses Medikament will ich nicht nehmen, schon gar nicht รผber Jahre! Das Risiko ist mir einfach zu groรโ.
Also habe ich nach Alternativen gesucht. Dabei bin ich auf diese Methode gestoรen (den Namen will ich hier nicht nennen), die mir eine Heilung ohne Medikamente versprach. Mein Arzt riet dringend ab. Aber es klang alles so plausibel! Ich war davon รผberzeugt, dass ich meine Erkrankung in den Griff bekomme.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begrรผndet. Warum das fรผr die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschichte eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Wie die Wahrnehmung von Risiken unsere
Entscheidungen beeinflusst.
Silvias Hauptargument, Methotrexat abzusetzen: „Das Risiko ist mir einfach zu groร“.
Der amerikanische Psychologe Paul Slovic gilt als einer der fรผhrenden Forscher auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. In einer seiner wichtigsten Studien bat er Probanden, ihre emotionale Grundeinstellung zu risikobehafteten Themen zu รคuรern, etwa zu den Themen โKonservierungsmittel in Lebensmittelnโ oder โdie Arbeit von Chemiefabrikenโ. Menschen, die eine negative Grundeinstellung zu einer Technologie hatten, listeten mehr Risiko- als Nutzenaspekte auf, und umgekehrt.
Im zweiten Teil wurden die risikobehafteten Themen von den Versuchsleitern mit Kommentaren versehen. Das Ergebnis: Eine starke Betonung der Risiken fรผhrte dazu, dass die Teilnehmenden die Risiken noch hรถher einschรคtzten und den Nutzen noch geringer bewerteten (Waage rechts).
Spรคtestens seit Slovics Verรถffentlichungen wissen wir, dass Menschen die Chancen und Risiken von Technologien nicht objektiv einschรคtzen. Meine Gesprรคche mit Patienten haben immer wieder gezeigt: Je negativer die Grundeinstellung eines Patienten Arzneimitteln gegenรผber ist, umso grรถรer schรคtzt er die Risiken des Arzneimittels ein und umso geringer erscheint ihm das Risiko, das Arzneimittel nicht einzunehmen.
Quelle:
Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: โRisk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationalityโ, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis

Silvia lieร bei unserem Treffen keinen Zweifel daran, dass fรผr sie auch die Anwendung von Arzneimitteln ein risikobehaftetes Thema ist. Sie ist damit nicht alleine.
Wie sieht die Risikowahrnehmung bei Arzneimitteln aus?
Der amerikanische Psychologe Paul Slovic gilt als einer der fรผhrenden Forscher auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. In einer seiner wichtigsten Studien bat er Probanden, ihre emotionale Grundeinstellung zu risikobehafteten Themen zu รคuรern, etwa zu den Themen โKonservierungsmittel in Lebensmittelnโ oder โdie Arbeit von Chemiefabrikenโ. Menschen, die eine negative Grundeinstellung zu einer Technologie hatten, listeten mehr Risiko- als Nutzenaspekte auf, und umgekehrt [1].
Im zweiten Teil wurden die risikobehafteten Themen von den Versuchsleitern mit Kommentaren versehen. Das Ergebnis: Eine starke Betonung der Risiken fรผhrte dazu, dass die Teilnehmenden die Risiken noch hรถher einschรคtzten und den Nutzen noch geringer bewerteten (Waage rechts).
Spรคtestens seit Slovics Verรถffentlichungen wissen wir, dass Menschen die Chancen und Risiken von Technologien nicht objektiv einschรคtzen.

Meine Gesprรคche mit Patienten haben immer wieder gezeigt: Je negativer die Grundeinstellung eines Patienten Arzneimitteln gegenรผber ist, umso grรถรer schรคtzt er die Risiken des Arzneimittels ein und umso geringer erscheint ihm das Risiko, das Arzneimittel nicht einzunehmen.

Analysen des Verhaltens von Verbrauchern zeigen, dass sich die Erkenntnisse aus Slovics Studie auch in der Gesellschaft widerspiegeln. Die Grafik unten zeigt exemplarisch an einem konkreten Beispiel das Ergebnis solcher Analysen: Ein erheblicher Anteil der Mitteleuropรคer ist Arzneimitteln gegenรผber grundsรคtzlich skeptisch gegenรผber eingestellt. Sie versuchen immer die Einnahme von Medikamenten zu vermeiden. Deshalb drรคngt sich die Frage auf, ob in den Gesellschaften, wo die Menschen besonders kritisch gegenรผber Arzneimitteln sind, die Betonung der Risiken von Arzneimitteln lauter und stรคrker ist als die Betonung des Nutzens. Zumindest in Deutschland werden die Verbraucher nur bei Zigaretten mehr auf das Thema โRisikoโ konditioniert als bei Arzneimitteln. Jede Arzneimittelwerbung endet mit dem Spruch โZu Risiken und Nebenwirkungen …โ.ย Menschen mit hohem Radio- oder Fernsehkonsum hรถren diesen Satz x-mal am Tag.

In der Grafik werden die Begriffe โAdhรคrenzโ, bzw. โNon-Adhรคrenzโ verwendet. Adhรคrenz beschreibt, in welchem Umfang ein Patient die mit dem Arzt vereinbarten Therapiemaรnahmen umsetzt. Die genaue Definition laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet: Das Ausmaร, in dem das Verhalten einer Person Medikamente einzunehmen, eine Diรคt einzuhalten und/oder รnderungen des Lebensstils durchzufรผhren, mit den vom Patienten akzeptierten Empfehlungen des Gesundheitsdienstleisters รผbereinstimmt.
Sicherlich รคndert sich die Einstellung eines Befragten, wenn er zum Patienten wird. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass diese negative Grundhaltung gegenรผber Arzneimitteln auch dazu beitrรคgt, dass Menschen die vom Arzt verschriebenen Arzneimittel nicht einnehmen oder eigenmรคchtig wieder absetzen. Es gibt allerdings keine verlรคsslichen Daten รผber die Adhรคrenzquoten in den einzelnen Lรคndern, insofern ist diese Vermutung reine Spekulation.
Das Problem zieht sich quer durch alle Krankheitsbilder, unabhรคngig von Schweregrad der Erkrankung. Fรผr Herzinfarktpatienten konnte z. B. gezeigt werden, dass innerhalb von bis zu vier Monaten nach dem Infarkt nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten ihr Rezept einlรถsen, mit rรผcklรคufiger Tendenz im weiteren Zeitverlauf [2]. รhnliche Beobachtungen gibt es bei der Herzinsuffizienz. Unter Patienten, die zumindest zwei Rezepte nach der Erstverschreibung eingelรถst haben, sind nach einem Jahr nur noch zwei Drittel in der Therapie; nach zwei Jahren ist es nur noch ein Drittel [3]. Fรผr Glaukompatienten (die Erkrankung kann zum Verlust der Sehkraft fรผhren, wenn sie unbehandelt bleibt) konnte gezeigt werden, dass viele Patienten ihre Augentropfen jeweils nur kurz vor dem Arzttermin einnehmen. Die Non-Adhรคrenzquote (die Quote der Patienten, die das Arzneimittel nicht oder nicht regelmรครig einnehmen) bei dieser Studie lag bei 30,3% [4]
Quellen:
[1] Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: โRisk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationalityโ, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis
[2] Jackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36
[3] Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95
[4] Gurwitz JH, Glynn RJ, Monane M, Everitt DE, Gilden D, Smith N, Avorn J. Treatment for glaucoma: adherence by the elderly. Am J Public Health. 1993 May;83(5):711-6. doi: 10.2105/ajph.83.5.711. PMID: 8484454; PMCID: PMC1694682.
Das Problem der verdeckten Non-Adhรคrenz.
Es gibt zwei Hauptgrรผnde, warum Patienten das vom Arzt verschriebene Arzneimittel nicht einnehmen oder absetzen. Der eine ist, sie haben Schwierigkeiten mit der Einnahme, wie es z. B. bei Augentropfen vorkommen kann. Oder sie vergessen das Arzneimittel immer wieder. In solchen Fรคllen sprechen Experten von der โnicht-intentionalen Non-Adhรคrenzโ (der Patient entscheidet sich nicht grundsรคtzlich gegen das Arzneimittel).
Silvias Fall reprรคsentiert den anderen Hauptgrund: Die Patienten treffen die Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen, weil sie der รberzeugung sind, dass es ihnen nicht hilft oder gar schadet (intentionale Nonadhรคrenz).
Neben den Merkmalen „intentional“ und „nicht-intentional“ gibt es noch ein weiteres wichtiges Kriterium. Silvia hat ihren Arzt in dem Glauben gelassen, sie wรผrde Methotrexat weiterhin einnehmen. Experten sprechen in solchen Fรคllen von der โverdeckten intentionalen Non-Adhรคrenzโ. Die Abbildung zeigt drei Szenarien, wie sich Patienten mit Problemen bei der Einnahme von Arzneimitteln verhalten kรถnnen.
Problematisch ist vor allem, wenn Patienten ihr Problem verschweigen oder ihren Arzt sogar tรคuschen, wie es bei Silvia der Fall war. Die Konsequenz ist, dass รrzte die Therapie falsch beurteilen, falsche Rรผckschlรผssen ziehen und letztendlich dem Patienten nicht helfen kรถnnen. Oft geht dabei wertvolle Zeit verloren, und die Therapie wird am Ende teurer. Die Patienten vergeben die Chance, dass ihr Arzt ihnen eine Lรถsung des Problems anbieten kann.

Die Analyse von Silvias Entscheidung.
Ich habe Silvia bei unserem Treffen gefragt, wie sie die Entscheidung gegen das Arzneimittel und fรผr die alternative Methode getroffen hat. Ihre Antwort:

Ich hatte eine Menge Informationen zusammengetragen und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Medikament mit dieser Liste an Nebenwirkungen keine Langzeitschรคden verursacht. Die Alternative klang so plausibel und angesichts meiner Bedenken gegen Methotrexat absolut verlockend. Es war am Ende eine Bauchentscheidung.
Auf das Thema โBauchentscheidungโ gehe ich im Zusammenhang mit Susannes Entscheidung ausfรผhrlich ein. Daher an dieser Stelle nur so viel:
Entscheidungen basieren auf Informationen. Die Gesamtheit der Informationen, die fรผr eine Entscheidung relevant sind, werden durch die Puzzleteile reprรคsentiert (siehe Abbildung). Das Puzzle ist aber nicht vollstรคndig. Es fehlen Puzzleteile. Man kann die fehlenden Teile in 3 Kategorien einteilen:
- Informationen zu denen wir keinen Zugang haben,
- Informationen, die wir nicht beschaffen kรถnnen oder wollen,
- Informationen, von denen wir gar nicht wissen, dass es sie gibt.
Aber selbst von den Informationen, die wir haben, berรผcksichtigen wir nicht alle bei unserer Entscheidung. Die Entscheidungsforschung nennt dafรผr zwei Hauptgrรผnde. Der eine ist, dass die Anzahl der Informationen, die unser Gehirn verarbeiten kann, begrenzt ist. Der andere Grund ist, dass wir dazu neigen, Informationen bewusst zu ignorieren, die im Widerspruch zu unseren Grundรผberzeugungen stehen.

Informationslรผcken und mangelnde kognitive Ressourcen, alle verfรผgbaren Informationen bei der Entscheidung zu berรผcksichtigen, sind also Rahmenbedingungen beim Treffen einer Entscheidung. Deshalb hat unser Gefรผhl oft einen starken Einfluss. Es ersetzt Wissen und das Denken.ย
Zu den bekanntesten Psychologen im deutschsprachigen Raum, die sich mit der Frage beschรคftigt haben, was Bauchentscheidungen sind, gehรถren Gerd Gigerenzer und Wolfgang Gaissmaier. Bei ihnen kann man dazu folgendes lesen [1]:

Wir verwenden den Begriff Intuition fรผr Urteile, die schnell sind, deren Mechanismen eventuell bewusstseinsfรคhig, keineswegs aber bewusstseinspflichtig sind, und die dennoch stark genug sind, um zu handeln. Unseres Erachtens lassen sich Intuitionen mit schnellen und einfachen Heuristiken beschreiben.
Der Begriff โHeuristikโ kommt aus dem Griechischen und heiรt soviel wie โich meineโ. Heuristiken sind eine Art Daumenregel des Gehirns fรผr Entscheidungen. Sie entstehen im Laufe unseres Lebens und speisen sich aus gelernten Erfahrungen. Heuristiken helfen uns, im Alltag bei lรผckenhafter Informationslage in kurzer Zeit hinreichend gute Entscheidungen zu treffen.
Die entscheidende Frage ist, ob und unter welchen Voraussetzungen man sich auf sein Bauchgefรผhl verlassen kann. Die Entscheidungsforschung gibt Antworten darauf. Die wichtigste sollte jeder Patient kennen: Das Bauchgefรผhl ist kein Kompass, der einem Menschen in allen Lebenslagen den Weg zur richtigen Entscheidung zeigen kann. Der Kompass funktioniert auf unterschiedlichen Erfahrungsfeldern des Lebens unterschiedlich zuverlรคssig. Ein erfahrener Arzt kann sich z. B. auf sein Bauchgefรผhl verlassen, wenn er eine Diagnose stellt. Er hat in seinem Leben viele Patienten mit dieser Erkrankung gesehen (das ist sein โAlltagโ). Er kann sich aber nicht unbedingt beim Kauf von Aktien auf sein Bauchgefรผhl verlassen.
Daraus folgt: Patienten sollten die Entscheidung, wie eine Erkrankung am besten zu behandeln ist, nicht ihrem Bauchgefรผhl รผberlassen. Ihr Gefรผhl basiert nicht auf Erfahrungen, sondern aus dem, wie sie gelesen oder gehรถrt haben. Sie gehen dem Denkfehler auf den Leim, den die Entscheidungsforschung als โemotionale Beweisfรผhrungโ bezeichnet. Eine Entscheidung fรผhlt sich gut an, also ist sie richtig oder sie fรผhlt sich schlecht an, also ist sie falsch.
Quelle:
[1] Gigerenzer Gerd, Gaissmaier Wokfgang:โWie funktioniert Intuition?โ in: Evolutionรคre Sozialpsychologie und automatische Prozesse (pp.31โ49), Publisher: Lengerich: PabstEditors: Erich H. Witte, 2006
Bauchentscheidungen sind also neuronale Daumenregeln, die sich durch Regeln beschreiben lassen. Die Entscheidungsforschung hat inzwischen eine Vielzahl dieser Heuristiken entdeckt, benannt und ausgiebig erforscht.
Vieles spricht dafรผr, dass die sogenannte Simulationsheuristik bei Silvias Entscheidung eine groรe Rolle gespielt hat.
Wie erwรคhnt, sind Heuristiken wertvolle Helfer, um im Alltag hinreichend gute Entscheidungen zu treffen. Jenseits unseres Alltags kรถnnen sie uns leicht auf den Holzweg fรผhren. Die Heuristik wird zur Entscheidungsfalle. Bei Silvias Entscheidung liegt die Falle darin, dass ihre Vorstellungskraft รผberhaupt nichts darรผber aussagt, welcher Weg der richtige ist.

Abschlieรend will ich noch auf ein weiteres Phรคnomen eingehen, das Patienten hรคufig zu falschen Entscheidungen fรผhrt. Die „optimistische Verzerrung“ war auch bei Silvias Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen und den Weg der alternativen Methode zu gehen, im Spiel. Die optimistische Verzerrung gehรถrt zu einer Gruppe von gut erforschten systematischen Fehlern beim Erinnern, Wahrnehmen und Entscheiden (Urteilsfehler). Sie lรคsst sich der Kategorie โfalsche Selbsteinschรคtzungโ zuordnen. Mehr รผber Urteilsfehler finden Sie im Zusammenhang mit Renates Entscheidung.
Wir begegnen diesem Phรคnomen in nahezu allen Lebensbereichen. So รผberschรคtzen etwa 80% der Menschen ihre Lebenserwartung, ihre Einkommensentwicklung, die Dauer ihrer Ehe und noch vieles mehr, gemessen an den statistischen Wahrscheinlichkeiten. Gleichzeitig unterschรคtzen sie ihr Risiko, krank, arbeitslos etc. zu werden.

Folgt man der Neurowissenschaftlerin Tali Sharot, scheint der Hang zur optimistischen Verzerrung angeboren zu sein und ein Leben lang zu halten, auch wenn die Lebenserfahrung dagegenspricht. Dazu passt auch die Erkenntnis, dass Menschen ihre Prognosen nur bedingt anpassen. Wer sein Krebsrisiko รผberschรคtzt hat, korrigiert es nach unten, wenn man ihm die Statistik zeigt. Wer es unterschรคtzt hat, bleibt eher bei seiner Einschรคtzung [1].
Der Grat zwischen Optimismus und Optimistischer Verzerrung ist schmal. Optimismus ist eine starke Kraft in unserem Leben, die uns viele Tรผren รถffnet. Einer der wichtigsten Vorteile einer optimistischen Grundeinstellung ist, dass Optimismus Beharrlichkeit fรถrdert. Wenn der Optimismus im Hinblick auf die Erreichung eines Ziels allerdings auf einer verzerrten Wahrnehmung, bzw. auf einem Urteilsfehler basiert, dann wird manche der positiven Eigenschaften, die ein Optimist mitbringt, zum Glatteis. Insbesondere die Beharrlichkeit kann unter Umstรคnden sehr kostspielig werden.
Gestรผtzt wird diese These z. B. durch eine Studie des รkonomen Thomas ร stebro [2]. Er hat die Daten einer kanadischen Organisation ausgewertet, die die Chancen von Erfindungen beurteilt. Beurteilungen, die unmissverstรคndlich ein Scheitern der Idee prognostizieren, bringen etwa die Hรคlfte der Erfinder zum Aufgeben ihrer Idee. Die andere Hรคlfte macht beharrlich weiter und verdoppelt am Ende ihre anfรคnglichen Verluste. Im Studienzeitraum wurden nur 5 von 411 dieser sehr negativ beurteilten Projekte kommerzialisiert, und keines davon war erfolgreich.
Wenn ich Patienten, die die Entscheidung getroffen haben, das vom Arzt verschriebene Medikament nicht einzunehmen, mit der Aussage konfrontiere, dass solche Entscheidungen nachgewiesenermaรen das Risiko von Komplikationen und Krankenhauseinweisungen vergrรถรert, vertreten die meisten zwar die Meinung, das kรถnne schon sein, bei sich selbst jedoch erwarten sie solche Konsequenzen nicht.
Quellen:
[1] Sharot, T., Riccardi, A., Raio, C., Phelps, E.: โNeural mechanisms mediating optimism bias.โ, Nature
[2] Thomas ร
stebro, โThe Return to Independent Invention: Evidence of Unrealistic Optimism, Risk Seeking or Skewness Loving?โ, Economic Journal 113 (2003): S. 226 – 239.
Zusammenfassung
Silvia litt an einer rheumatoiden Arthritis. Ihr Arzt verschrieb ihr Kortison und das Medikament Methotrexat. Das Kortison setzte sie nach 6 Monaten auf Empfehlung ihres Arztes wieder ab. Kurz danach entschied sie sich fรผr eine Methode, die ihr Heilung innerhalb von kurzer Zeit ohne Medikamente versprach und setzte auch Methotrexat ab (ohne ihren Arzt zu informieren). Ein Jahr spรคter waren ihre Schmerzen stรคrker denn je. Sie wertete die Entscheidung als falsch.
Silvia verlieร sich bei ihrer Entscheidung auf ihr Bauchgefรผhl und wรคhlte eine Methode, die sich ein Jahr spรคter als Irrweg herausstellte. Das Bauchgefรผhl ist bei Entscheidungen dieser Art kein guter Ratgeber, denn die Voraussetzungen, die erfรผllt sein mรผssen, wenn man sich auf sein Bauchgefรผhl verlassen will, waren in Silvias Fall nicht gegeben.
Silvias Entscheidung muss vor dem Hintergrund ihrer negativen Grundeinstellung gegenรผber Arzneimitteln betrachtet werden. Menschen mit negativer Grundeinstellung zu einem Thema neigen dazu die Risiken zu hoch und den Nutzen zu gering einzuschรคtzen.
Eine weitere falsche Entscheidung war, dass Silvia ihren Arzt in dem Glauben gelassen hat, sie nehme Methotrexat weiterhin ein.
Welche Empfehlung lรคsst sich aus Silvias Fall ableiten? Dazu mรถchte ich den Mรผnchner Rheumatologen Prof. Dr. Klaus Krรผger zitieren:

Gerade bei MTX (Methotrexat ) haben viele groรe Angst vor Nebenwirkungen und entwickeln teilweise einen starken Widerwillen …
… Dabei sind schwere Nebenwirkungen bei MTX gar nicht so hรคufig. Trotzdem haben viele das Gefรผhl, dass dieses Medikament sehr gefรคhrlich ist und ihnen auf Dauer sicher schadet. Ist der Widerwille beim Patienten zu groร, kann der Arzt gemeinsam mit dem Betroffenen eine andere Lรถsung finden โ zum Beispiel eine Biologika-Therapie mit einer geringeren MTX-Dosis zu beginnen. Eigentlich gibt es immer Alternativen โ man muss sie nur mit seinem Arzt besprechen.
Let’s Work Together
Initiative DIE GUTE PATIENTENENTSCHEIDUNG
Starke Impulse fรผr mehr Adhรคrenz
Peter Jungblut
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