Julia L. und das Dilemma von Ja-/Nein-Fragen

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- sich fragen, ob sie ihre Medikamente wirklich weiternehmen sollen – und dabei zwischen Ja und Nein schwanken,
- das Gefühl haben, dass ihre Therapie nicht (mehr) zu ihrem Leben passt,
- offen sind für eine bessere Frage: Wie kann die Behandlung so verändert werden, dass ich gut damit zurechtkomme?
Das Motiv wirkt, weil es die gewohnte Denkweise über Therapieentscheidungen visuell auf den Punkt bringt – und gleichzeitig durchbricht.
Es lädt Patient:innen dazu ein, innezuhalten – und statt Ja oder Nein eine bessere Frage zu stellen.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster:
Les Paul war ein begnadeter Gitarrist. Doch seine akustische Gitarre war ihm zu leise. Hätte er sich die Frage gestellt: „Soll ich eine Gitarre mit größerem Resonanzkörper bauen – ja oder nein?“, wäre daraus wohl nie etwas Neues entstanden. Stattdessen fragte er sich: „Wie kann ich eine lautere Gitarre bauen?“ – und erfand die E-Gitarre.
Diese Geschichte zeigt: Wer Fragen anders stellt, findet andere – oft bessere – Antworten. Gute Entscheidungen entstehen nicht durch das Abwägen zweier Optionen, sondern durch kreatives Denken, durch die Suche nach neuen Wegen. Auch in der Medizin gilt: Nicht jede Entscheidung passt in ein Ja-/Nein-Schema.
Manche Patientinnen und Patienten haben Zweifel, ob sie ein verschriebenes Medikament wirklich einnehmen sollen. In solchen Momenten empfehlen wir: Stellen Sie sich nicht die Frage „Soll ich das Medikament nehmen – ja oder nein?“, sondern sprechen Sie uns an. Gemeinsam finden wir die richtige Lösung.
Denn gute Entscheidungen entstehen im Gespräch – nicht im Entweder-oder.
Julia hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihm getroffen.
Julias „Geschichte“
Julia L. ist 34, Mutter eines Kleinkinds, arbeitet halbtags als Grafikdesignerin. Die Diagnose Multiple Sklerose (schubförmig remittierend) traf sie vor zwei Jahren – wie ein Schock. Sie begann damals auf Empfehlung ihres Neurologen mit einer Basistherapie: Interferon beta-1a, als wöchentliche Injektion.
Anfangs machte sie alles „richtig“. Sie spritzte regelmäßig, hielt sich an die Empfehlungen. Doch mit der Zeit wurde es schwerer: Grippeähnliche Nebenwirkungen, die sie tagelang aus der Bahn warfen. Der ständige Reminder durch die Spritze. Die Angst, etwas falsch zu machen. Die Unsicherheit, ob es überhaupt etwas brachte. Und dann war da noch ihr Sohn, der sie oft fragte: „Mama, warum machst du dir immer eine Spritze?“
Sie sprach mit niemandem darüber. Stattdessen stellte sie sich eine einfache Frage:
„Soll ich das wirklich weitermachen – ja oder nein?“
Und sie sagte sich: „Nein.“
Sie setzte das Medikament einfach ab. Ohne Rücksprache. Ohne Plan B. Und anfangs ging es ihr gut. Wochenlang. Fast monatelang. Sie fühlte sich frei, leistungsfähig, unbelastet.
Bis sich die ersten Symptome zurückmeldeten: Taubheitsgefühle in der rechten Hand. Später Sehstörungen. Sie bekam Angst – aber nicht den Mut, zu ihrem Neurologen zurückzugehen. Stattdessen suchte sie einen anderen Arzt auf – einen Neurologen mit MS-Schwerpunkt, auf Empfehlung einer Freundin.
Er hörte sich ihre Geschichte an. Und sagte dann nur einen Satz, der sie traf:
„Sie haben sich nicht gegen ein Medikament entschieden – Sie haben sich gegen eine wichtige Frage entschieden.“
„Nicht: ‚Ja oder Nein?‘ – sondern: ‚Wie kann ich die Therapie so verändern, dass ich gut damit leben kann?’“
Er erklärte ihr moderne Alternativen – darunter eine tägliche Tablette mit dem Wirkstoff Ozanimod. Keine Spritzen. Gute Wirksamkeit. Sanfte Einführung über sieben Tage. Und: Ein klarer Plan für die nächsten Jahre.
Julia begann die neue Therapie. Anfangs zögerlich. Dann entschlossener. Die Symptome besserten sich, neue Schübe blieben aus. Vor allem aber kam etwas anderes zurück: Vertrauen.
Welche Empfehlungen sich aus diesem Fall ableiten
Zunächst die Empfehlungen, die sich für Ärzt:innen aus Julias Geschichte ergeben, anschließend gehe ich auf die Empfehlungen für Patient:innen ein.
1. Frühzeitig über typische Entscheidungsfehler aufklären
Menschen treffen medizinische Entscheidungen oft nicht rational, sondern unter dem Einfluss kognitiver Verzerrungen („Heuristiken“). Häufig bei MS-Patient:innen:
- Kontrollillusion: „Ich spüre nichts – also hab ich’s im Griff.“
- Verfügbarkeitsheuristik: „Ich kenn jemanden, der nie was genommen hat – und dem geht’s gut.“
- Gegenwartsverzerrung: „Jetzt fühl ich mich besser – warum an später denken?“
Empfehlung:
Aufklärung über solche Denkfehler sollte nicht erst nach einem Therapieabbruch erfolgen, sondern präventiv – als Teil der initialen Entscheidungsberatung.
2. Vermeidung von Ja-/Nein-Fragen
„Wenn Sie Zweifel an der Therapie haben – was ganz normal ist – stellen Sie sich bitte nicht die Frage: ‚Soll ich das weitermachen – ja oder nein?‘
Diese Frage führt selten zu guten Lösungen.
Stellen Sie sich lieber die Frage: ‚Was müsste sich ändern, damit ich mit der Behandlung gut zurechtkomme?‘
Und lassen Sie uns diese Frage gemeinsam beantworten. Es gibt meist mehr Möglichkeiten, als man denkt.“
3. Therapietreue ist kein reines Wissensproblem
Julia wusste, dass Medikamente helfen. Aber:
- Emotionale Belastung
- Alltagsbelastung durch Injektionen
- Der Wunsch nach Normalität
führten dazu, dass sie sich emotional von der Therapie entfernte, obwohl sie faktisch stabil war.
Erkenntnis:
Verstehen heißt nicht einverstanden sein. Gute Adhärenz braucht emotionale Passung, nicht nur medizinische Logik.
Das können Patient:innen aus Julias Geschichte lernen:
1. Vermeidung von Ja-/Nein-Fragen (s.o.)
2. Nicht jedes Absetzen ist eine Entscheidung – manchmal ist es ein Ausweichen
Julia fragte sich: „Will ich das weitermachen – ja oder nein?“
Und sagte innerlich „Nein“ – aber ohne neue Perspektive.
Lernpunkt:
Wirklich hilfreiche Entscheidungen beginnen mit der richtigen Frage. Zum Beispiel:
„Welche Alternative gäbe es, wenn ich das so nicht mehr möchte?“
„Wie kann ich mich mit einer Therapie wohlfühlen?“
3. Therapie muss zum Leben passen – nicht umgekehrt
Juli hatte gute Gründe, mit der Injektionstherapie unzufrieden zu sein. Aber: Das Ziel war nicht, die Therapie loszuwerden, sondern eine passende zu finden.
Es gibt heute viele moderne Therapieoptionen. Offenheit gegenüber der Ärztin/zum Arzt kann den Weg dorthin öffnen.
4. Früh sprechen spart Zeit – und Gesundheit
Juli verlor durch das Absetzen wertvolle Monate. Ein Schub kann bleibende Schäden hinterlassen.
Therapie ist kein „Alles oder nichts“. Es gibt Zwischenlösungen – aber man muss darüber sprechen.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
