Lea S. und die Selbstbestätigungsfalle

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- die viel gelesen, viel gehört, viel gefühlt haben – und sich dabei vor allem auf das konzentrieren, was ihre Zweifel bestätigt,
- die auf der Suche nach Sicherheit unbewusst das festhalten, was sich vertraut anfühlt – selbst wenn es sie vom nächsten Schritt abhält.
Das Motiv auf dem Poster zeigt ein Gehirn, das mit einem schweren Anker verbunden ist.
Es steht für den Moment, in dem eine Überzeugung nicht mehr prüfbar ist – weil sie sich schon zu tief festgesetzt hat.
Man meint, frei zu entscheiden – und merkt nicht, dass man längst festhängt.
Dieses Bild lädt dazu ein, innezuhalten:
Nicht um eine Meinung zu kippen – sondern um sie bewusst zu überprüfen.
Denn wer immer nur nach Bestätigung sucht, findet vielleicht nie den Weg hinaus.
Verstehen beginnt, wo wir unsere eigenen Gedanken hinterfragen.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster
Samstagnachmittag in einem ausverkauften Fußballstadion. Kurz vor Schluss steht es noch 0:0. Es geht hitzig hin und her. Der Stürmer der einen Mannschaft kommt in eine aussichtsreiche Schussposition, wird aber von seinem Gegenspieler in letzter Sekunde geblockt. Der Schiedsrichter hat ein Foul gesehen und pfeift. Mit ihm pfeifen 50.000 Zuschauer. Während der eine Teil sich darüber aufregt, dass der Schiedsrichter dem Verteidiger nicht mindestens eine gelbe Karte zeigt, beschimpft der andere Teil den Schiedsrichter, weil er überhaupt ein Foul gepfiffen hat. Beide Gruppen haben das selbe gesehen, aber etwas anderes wahrgenommen (für wahr genommen).
Dieses Phänomen kann man auch beobachten, wenn man mit zwei Patienten über Arzneimittel spricht. Beide haben die gleiche Information, aber jeder nimmt etwas anderes „für wahr“. Für den einen ist das Arzneimittel in erster Linie ein hilfreiches Instrument zur Behandlung seiner Erkrankung, während der andere vor allem die Risiken im Blick hat. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir die Position des Schiedsrichters einnehmen würden. Stattdessen wollen wir Recht behalten und suchen vor allem nach Informationen, die uns in unserer Grundauffassung bestätigen. Was unser Weltbild ins Wanken bringt, ignorieren wir.
Wenn Sie Zweifel an dem Arzneimittel haben, das Ihnen Ihr Arzt verschrieben hat, handeln Sie nicht nach dem Motto „Meine Meinung steht fest“, sondern sprechen Sie uns an.
Lea hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihr getroffen.
Leas „Geschichte“
Lea S. ist 34 und leidet seit Monaten unter Panikattacken.
Sie kommen scheinbar aus dem Nichts: Herzklopfen, Atemnot, Zittern, das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden – oder verrückt.
Nach vielen Untersuchungen stellt ihre Ärztin fest: Es ist eine Panikstörung.
Sie empfiehlt ihr ein Medikament mit dem Wirkstoff Escitalopram – ein modernes Antidepressivum, das auch bei Angststörungen gut hilft.
Langsam einschleichen, niedrig dosieren – alles gut erklärt.
Doch zuhause beginnt das Grübeln:
„Was, wenn ich mich damit nicht mehr wie ich selbst fühle?“
„Ich will mich nicht künstlich ruhigstellen lassen.“
„Ich habe so viel Negatives darüber gelesen …“
Lea sucht im Internet – und findet genau das, was ihre Angst bestätigt:
Erfahrungsberichte über Nebenwirkungen, das Gefühl, „emotional taub“ zu sein, Absetzprobleme.
Sie entscheidet sich: „Ich lasse es lieber.“
Stattdessen probiert sie Entspannungsübungen, Atemtechniken, pflanzliche Tropfen.
Aber die Panik bleibt – und sie zieht sich immer mehr zurück.
Lea S. und die Selbstbestätigungsfalle
Mein Gespräch mit Lea hatte das Ziel, herauszufinden, warum sie die Entscheidung gegen das Medikament getroffen hat und daraus Empfehlungen zu Entwickeln, was Ärzte und Apotheker bei ähnlichen Konstellationen tun können, um Patienten zu helfen, die „richtige“ Entscheidung zu treffen. Die Analyse von Leas Entscheidung erlaubt den Rückschluss, dass in diesem Fall die sogenannte Selbstbestätigungsfalle eine zentrale Rolle gespielt hat.
Die Selbstbestätigungsfalle ist eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen gezielt Informationen suchen, auswählen oder interpretieren, die ihre bestehenden Überzeugungen oder Ängste bestätigen – und gleichzeitig gegenteilige Informationen ausblenden oder abwerten. Ein Beispiel:
Jemand glaubt „Kaffee ist schlecht für mich.“ Er hat das einmal in einem Gesundheitsartikel gelesen – und seitdem merkt er sich jede Schlagzeile, die das bestätigt: „Kaffee treibt den Blutdruck hoch!“ „Koffein stört den Schlaf!“ „Kaffee macht nervös!“
Wenn er dann etwas anderes liest – zum Beispiel: „Kaffee schützt vor Diabetes“ – dann denkt er: „Das kann ja gar nicht stimmen. Wahrscheinlich von der Kaffeelobby bezahlt.“ Was er nicht merkt: Er ignoriert alle Belege und Erfahrungen, die seiner Überzeugung widersprechen könnten.
So bleibt er in seine Sicht gefangen – nicht, weil er uneinsichtig ist, sondern weil er unbewusst selektiv denkt.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
Wie die Selbstbestätigungsfalle zu Leas Entscheidung geführt hat
Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte für meine Einschätzung: Selbstbestätigungsfalle.
1. Vorbestehende Überzeugung: Medikamente machen abhängig oder verändern die Persönlichkeit
Lea geht mit einer vorgeprägten Haltung in die Entscheidung:
„Ich will nichts nehmen, das mich verändert oder ruhigstellt.“
Diese Haltung ist emotional verankert – nicht primär sachlich. Es geht um das Gefühl von Kontrollverlust.
2. Selektive Informationssuche
Lea sucht im Internet gezielt nach Erfahrungsberichten zu Escitalopram – aber nicht nach klinischen Studien oder ärztlichen Erfahrungswerten.
Sie klickt:
- auf Forenbeiträge mit dramatischen Titeln,
- auf YouTube-Videos mit Absetzgeschichten,
- auf negative Bewertungen in Gesundheitsportalen.
Sie ignoriert:
- positive Berichte,
- statistische Daten zur Wirksamkeit,
- ärztlich fundierte Empfehlungen.
3. Interpretation im Sinne der Angst
Selbst neutrale Informationen („mögliche Nebenwirkungen in der Einstellungsphase“) interpretiert sie als Warnung.
Ihr Gehirn hört nicht, was gesagt wird – es hört, was es erwartet.
Meine Empfehlungen
Lea sind ist kein Einzelfall.
Viele Patienten zweifeln, googeln, zögern – und entscheiden sich am Ende gegen eine Therapie, obwohl sie Hilfe suchen.
Auf Basis meines Gesprächs mit Lea habe ich diesen kurzen Leitfaden für Ärzt:innen und Apotheker:innen entwickelt – um besser zu verstehen, was dahintersteckt, und wie man solche Entscheidungen behutsam begleiten kann.
1. Haltung vor Inhalt: Nicht überzeugen – orientieren
Signal geben: „Sie sind nicht allein damit.“
Beispiel-Formulierung:
„Viele meiner Patient:innen haben an dieser Stelle ähnliche Bedenken. Und es ist klug, Fragen zu stellen, bevor man sich auf etwas Neues einlässt.“
2. Confirmation Bias behutsam benennen
Ziel: Mechanismus erklären, ohne Schuldzuweisung
Formulierung:
„Unser Kopf sucht oft nach dem, was zu unseren Ängsten passt. Das nennt man Bestätigungsfehler – und das passiert uns allen, gerade wenn wir uns schützen wollen.“
„Wenn man dann online liest, was alles passieren könnte, wirkt das oft stärker als das, was wahrscheinlich ist.“
3. Selbstbeobachtung ermöglichen – ohne Konfrontationen
Frage:
„Was haben Sie gelesen oder gehört, das Sie besonders nachdenklich gemacht hat?“
„Und was davon klang für Sie glaubwürdig – und was vielleicht auch eher extrem?“
→ So entsteht Distanz zum automatischen Denken.
4. Entscheidungsspielraum emotional zurückgeben
Ziel: Autonomie wahren, aber Entscheidung erweitern
Formulierung:
„Meine Aufgabe ist es, Sie gut zu informieren – und auch mit Ihren Gefühlen ernst zu nehmen. Vielleicht können wir gemeinsam schauen, wie Sie sich innerlich mit dieser Entscheidung wohler fühlen.“
„Es geht nicht darum, sofort zu starten – sondern zu prüfen, was Ihnen wirklich hilft.“
5. Neue Erfahrung statt alte Überzeugung anbieten
Vorschlag:
„Wollen wir es für 10 Tage gemeinsam versuchen – ganz niedrig dosiert – und dann sehen Sie selbst?“
„Das ist kein Vertrag – das ist eine Einladung, Ihre Meinung auf neue Weise zu überprüfen.“
Merksatz für das Gespräch:
Nicht überzeugen – entlasten. Nicht gegenreden – vorsichtig umrahmen. Nicht Druck – sondern Denken in Bewegung bringen.
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Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
