Georg B. und der Unterlassungseffekt

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden Name und Bild geändert.
Dieses Poster haben wir für Patientinnen und Patienten entwickelt, die …
- sich auf den Weg gemacht haben – aber kurz davor stehen, umzudrehen.
- eine Therapie begonnen haben, aber ins Grübeln geraten: „Brauche ich das wirklich noch?“
- das Gefühl haben, es ist leichter, nichts zu tun, als einfach weiterzugehen.
Das Motiv greift genau diesen Denkfehler auf: Inspiriert von der Studie der Psychologin Ellen Langer, die das Phänomen der Kontrollillusion wissenschaftlich beschrieben hat.
Es erinnert Patient:innen daran, dass gefühlte Kontrolle nicht mit tatsächlicher Kontrolle gleichzusetzen ist – und dass medizinische Risiken oft nur durch konsequente Behandlung reduziert werden können.

Der Impuls steht Kliniken, Arztpraxen und Apotheken in verschiedenen Formaten zur Verfügung:
- als Gesprächskarte für die direkte Kommunikation mit Patient:innen,
- als Poster, das im Raum wirkt und Patient:innen still zum Nachdenken anregt,
- in digitaler Form für Bildschirme,
- als Flyer, der dem Rezept beigelegt oder beim Einlösen in der Apotheke mitgegeben werden kann.
Alle Materialien werden individuell auf Ihre Klinik, Praxis oder Apotheke abgestimmt – und tragen so Ihre Handschrift.
Wie Sie unsere Motive gezielt zur Förderung von Adhärenz einsetzen können?
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Der Text unter dem Poster
Im Jahr 1975 führte die amerikanische Psychologin Ellen Langer eine Studie durch, die weltweit Beachtung fand. Das Ergebnis der Studie war, dass Menschen ihre Gewinnchancen beim Lotto höher einschätzen, wenn sie die Zahlen selbst auswählen können. Ellen Langer entdeckte ein Phänomen, das die Entscheidungsforschung als „Kontrollillusion“ bezeichnet. Zahlreiche weitere Studien folgten. Andere Forscher haben z. B. gezeigt, dass Menschen die Wartezeit an einer Ampel leichter ertragen, wenn sie einen Knopf drücken können, auch wenn das keinen Einfluss auf die Schaltung der Ampel hat.
Eine Erklärung für die Kontrollillusion ist, dass sie uns hilft, besser mit der Unsicherheit umzugehen, der wir in der Welt, in der wir leben, nun mal ausgesetzt sind. Sie hat aber auch ihre Tücken – und die sollten Sie kennen. Denn die Kontrollillusion verleitet uns oft dazu, unnötige Risiken einzugehen. So zeigen Studien z. B., dass Broker mit einer erhöhten Kontrollillusion ihre Erfolge auf ihre guten Entscheidungen zurückführen, während sie Misserfolge als Effekt der Rahmenbedingungen interpretieren. Sie gehen größere Risiken ein und korrigieren Fehler oft zu spät.
Bei Patientinnen und Patienten ist die Kontrollillusion beispielsweise im Spiel, wenn sie mit einem Problem zu spät zum Arzt gehen („Unkraut vergeht nicht“) oder wenn sie ihre Arzneimittel zu früh absetzen.
Georg hat mich kontaktiert, ich habe mich mit ihm getroffen.
Georgs „Geschichte“
Georg B. ist 62, beruflich frühpensionierter Bauleiter. Nach einem leichten Herzinfarkt vor 8 Monaten hat ihm sein Arzt eine Fixkombination aus Amlodipin, Atorvastatin und Perindopril verschrieben. Damit sind Blutdruck, Cholesterin und Gefäßschutz in einem Medikament abgedeckt. Praktisch, sagt sein Arzt. Und Herr B. beginnt damit.
Die Werte verbessern sich. Die Kontrolltermine werden seltener. Und mit der Zeit auch die Sorgen.
Georg denkt:
„Mir geht’s doch gut. Ich nehm sowieso zu viele Tabletten. Und dieses Kombipräparat – ich weiß ja gar nicht, was da wie wirkt.“
Er setzt das Medikament eigenmächtig ab – schleichend, ohne Rücksprache. Erst jeden zweiten Tag. Dann nimmt er es gar nicht mehr.
Einige Wochen später klagt er über Engegefühl in der Brust – erneut instabile Angina.
Wenn das Absetzen leichter fällt als das Dranbleiben
Georg steht der Schulmedizin im Grunde nicht skeptisch gegenüber. Er ist schlicht einem typischen Urteilsfehler auf den Leim gegangen – einem Denkreflex, der uns bei vielen Entscheidungen beeinflusst, oft ohne dass wir es merken.
In seinem Fall war es der Unterlassungseffekt – auch bekannt als Omission Bias:
Wir Menschen neigen dazu, Risiken durch aktives Handeln als gefährlicher zu bewerten als Risiken durch Unterlassen.
Oder einfacher gesagt: Etwas zu tun und damit einen Schaden zu riskieren fühlt sich schlimmer an, als nichts zu tun und das Risiko zu übersehen – selbst wenn das Ergebnis am Ende schlimmer ist.
Dieser Denkfehler zeigt sich nicht nur in der Medizin. Wir kennen ihn auch aus anderen Bereichen:
- Lieber nichts sagen, um keinen Streit zu riskieren – obwohl das Schweigen die Beziehung schädigt.
- Eine Bewerbung nicht abschicken, um keine Absage zu bekommen – und damit jede Chance verspielen.
- Eine Investition nicht tätigen, aus Angst vor Verlust – obwohl das Geld auf dem Konto langsam an Wert verliert.

Die Karte ist Teil des Kartensatzes „Entscheidungsprinzipien und Denkfallen, die Sie kennen sollten“. Sie finden den Kartensatz in unserem Online Shop.
In der Therapie heißt das:
Das Absetzen eines Medikaments fühlt sich harmloser an als das Weiternehmen – obwohl es riskanter ist.
Die aktive Handlung (Pille einnehmen) wird emotional mit Verantwortung und Risiko verknüpft.
Das Nicht-Handeln (weglassen) dagegen wirkt wie ein „natürlicherer“ Weg – obwohl es oft der gefährlichere ist.
Georg B. spürte keine akuten Beschwerden. Genau das machte das Absetzen so verlockend.
Er sagte sich:
„Wenn ich jetzt was nehme und es schadet mir – war’s meine Schuld.“
„Wenn ich nichts nehme und was passiert – dann war’s halt so.“
Ein Denkfehler, der vielen vertraut ist. Und gefährlich wird, wenn er nicht erkannt wird.
Meine Empfehlungen an Georg
Aus meinem Gespräch mit Georg lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:
1. Beobachten Sie nicht nur Ihre Gesundheit – sondern auch, wie Sie entscheiden.
Unser Denken folgt oft festen Mustern – und manchmal führen sie in die Irre.
Fragen Sie sich regelmäßig:
„Worauf beruht meine Entscheidung – auf Fakten oder auf einem Reflex?“
„Vermeide ich etwas aktiv – oder lasse ich es einfach nur, weil es sich sicherer anfühlt?“
Wer sein Entscheidungsverhalten hinterfragt, entscheidet langfristig besser – gerade in Gesundheitsfragen.
2. Seien Sie skeptisch gegenüber dem Gefühl: „Lieber nichts tun.“
Wenn sich das Weglassen sicherer anfühlt als das Dranbleiben, fragen Sie sich:
„Fühlt sich das sicherer an – oder ist es das wirklich?“
Unser Bauchgefühl schützt uns – aber manchmal in die falsche Richtung.
3. Stellen Sie sich die Folgen des „Nichtstuns“ konkret vor.
Was könnte passieren, wenn ich das Medikament einfach weglasse?
Nicht abstrakt – sondern ganz praktisch: Ein erneuter Herzinfarkt, Krankenhausaufenthalt, körperliche Einschränkungen.
Tipp: Das Risiko bekommt mehr Gewicht, wenn es ein Gesicht hat.
4. Entscheiden Sie nicht allein – sondern gemeinsam.
Wenn Sie über das Absetzen nachdenken: Besprechen Sie es mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Apotheker.
Manche Medikamente kann man tatsächlich reduzieren – aber sicher und mit Plan.
Der Patientenratgeber „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Treffen Sie keine voreiligen Entscheidungen“ zeigt anhand von 15 eindrücklichen Fällen, wie medizinische Entscheidungen schiefgehen können – und was man daraus lernen kann. Anhand echter Geschichten, verständlich erklärt und sorgfältig analysiert, erfahren Patientinnen und Patienten, wie sie typische Denkfehler vermeiden, ihre Entscheidungskompetenz stärken und zu besseren, selbstbestimmten Entscheidungen finden können.
Ein Buch, das Mut macht – durch Wissen, Reflexion und die Erfahrungen anderer.
Und nicht nur bei medizinischen Fragen: Die Tipps und Einsichten helfen auch im beruflichen und privaten Alltag, bessere Entscheidungen zu treffen – klarer, überlegter und selbstsicherer.
