Kennen Sie Ihr Ziel!?
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Der Text unter dem Motiv:
Mark Twain soll einmal gesagt haben „Nachdem wir unsere Ziele endgültig aus den Augen verloren haben, verdoppelten sich unsere Anstrengungen“. Welches Ziel haben Sie vor Augen? Oder sind es vielleicht sogar mehrere Ziele? Haben Sie Ihre Ziele klar formuliert oder sind sie nur als vage Gedanken in Ihrem Kopf?
Insbesondere bei unseren Gesprächen mit Patientinnen und Patienten, bei denen die Therapie Monate oder gar Jahre dauert, stellen wir immer wieder eine gewisse „Therapiemüdigkeit“ fest. Dieses Phänomen kommt unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass sie nachlässiger mit der Einnahme ihrer Medikamente werden oder die Therapie sogar abbrechen. Die häufigste Ursache dafür ist, dass sie keine konkreten Ziele vor Augen oder ihre Ziele aus den Augen verloren haben. Bei vielen dieser Patienten verdoppeln sich am Ende tatsächlich die Anstrengungen.
Um zu zeigen, wie wichtig die intensive Auseinandersetzung mit Zielen ist, will ich meine eigene Fehlentscheidung als Patient vorstellen. Die Vernachlässigung meiner Ziele hätte mir beinahe das Leben gekostet.

Meine eigene Geschichte war auch der Auslöser, mich mit dem Thema „Patientenentscheidungen“ intensiv auseinanderzusetzen und diese Initiative zu gründen. Mehr über mich finden Sie hier ->.

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Meine Entscheidung als Patient

Wie bereits erwähnt, handelt es sich hier um meine eigene Entscheidung. Ich bin Peter Jungblut, in dem Jahr meiner Geschichte, war ich 56 Jahre alt. Im Jahr 2010 war mein Unternehmen, die Juwi MacMillan Group, auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Mit unseren 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren wir laut Branchenmagazin W&V unter den Top 5 der inhabergeführten Werbeagenturen Deutschlands. 3 Jahre später musste ich Insolvenz anmelden. Der geschäftlichen Insolvenz folgten die Privatinsolvenz und das Ende meiner Ehe. Ich zog nach Berlin, wo ich als Unternehmer von vorne begann.
Die Symptome der Depression fingen langsam an. Ich ignorierte sie. Doch je mehr ich sie ignorierte, umso stärker wurden sie. Meine größten Probleme waren meine Antriebsstörungen und meine Panikattacken. Wer beides noch nicht erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Das Leben tat so weh, dass ich entschlossen war, es zu beenden, wenn es mir nicht bald besser ging.
Mir war klar, ich gehörte sofort in die Klinik. Aber damit wäre mein wirtschaftliches Comeback zuende. Ich würde zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit vor einem Scherbenhaufen stehen. Ich traf die Entscheidung, einen niedergelassenen Psychiater aufzusuchen und mir ein Antidepressivum verschreiben zu lassen, damit ich wieder genug Antrieb hatte, meine Kunden zu bedienen. Meine Idee war, dass die Symptome mit der medikamentösen Therapie in einigen Wochen zurückgehen würden. Ich wäre für meine Kunden weiter erreichbar, und niemand würde merken, in welchem Zustand ich war. Ich gab mir 4 Wochen, danach würde ich weitersehen. Ich verschwieg dem Psychiater meine Suizidabsichten und erhielt das ersehnte Rezept.
In den folgenden 3 Wochen unternahm ich 3 Suizidversuche. Der Grund: Vor der Einnahme des Antidepressivums hatte ich zwar den starken Wunsch, mir das Leben zu nehmen, aber mir fehlte einfach die Energie (Antriebsschwäche). Erst das Antidepressivum, das mir der Psychiater verschrieben hat, gab mir den Antrieb, meine Suizidgedanken in die Tat umzusetzen. Meine Versuche blieben zum Glück erfolglos. Dann begab ich mich endlich in eine psychiatrische Klinik, das war die beste Entscheidung, die ich seit langem getroffen habe.

Meine Geschichte*
Ich hatte in meiner Zeit als Chef der Juwi MacMillan Group beruflich sehr viel mit Depression zu tun. Ich kannte mich mit diesem Krankheitsbild recht gut aus. Deshalb war mir auch klar, dass ich in meinem Zustand sofort in eine Klinik gehörte.
Ich habe anders entschieden, war aber keineswegs davon überzeugt, dass mein Plan aufgehen würde. Ich sah es als einzige Chance, mein wirtschaftliches Comeback zu retten. Das war mir wichtiger als alles andere. Das schlimmste wäre, wenn meine Kunden merken würde, dass mit mir gesundheitlich etwas nicht in Ordnung ist, deshalb kam eine stationäre Behandlung für mich nicht infrage. Immerhin kannte ich zwei Menschen mit schwerer Depression, wo ein Antidepressivum innerhalb von wenigen Wochen sehr gut gewirkt hat.
Meine zweite Entscheidung in diesem Kontext war, dem Psychiater, von dem ich das Rezept wollte, meine Suizidgedanken zu verschweigen. Kein seriöser Arzt würde einem Patienten mit Suizidabsichten ein antriebssteigerndes Antidepressivum verschreiben.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Patient seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschichte eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Die Analyse meiner Entscheidung
Das „Health Belief Modell“ wird zur Analyse und zur Vorhersage des Verhaltens eines Patienten in Bezug auf seine Gesundheit verwendet. Die Entwicklung dieses Modells geht auf die amerikanischen Psychologen Becker und Rosenstein zurück. Demnach hängt das Verhalten von Patienten von zwei Faktoren ab:
- vom persönlichen Wert, den das Erreichen eines bestimmten Ziels für den Patienten hat und
- der von ihm erwarteten Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel durch eine bestimmte Handlung zu erreichen.
Ich habe meine Entscheidung aus der Perspektive dieses Modells in der hier abgebildeten Matrix visualisiert.
Die möglichen Handlungen (Optionen)
Für die Behandlung meiner Depression kamen aus meiner Sicht drei Optionen infrage: Die stationäre Behandlung, die Behandlung in einer Tagesklinik und die ambulante Behandlung, jeweils in Kombination mit einer medikamentösen Therapie und Psychotherapie.
Die Ziele (Trigger)
Ich hatte zu dem Zeitpunkt, als ich den Psychiater aufsuchte, um mir das Rezept für ein Antidepressivum zu beschaffen, nur zwei Ziele: Die schnelle Reduktion der Symptome und dass ich für meine Kunden weiterhin erreichbar war. In der Matrix bezeichne ich die Ziele als Trigger. Trigger sind Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen, wie z. B. Ziele, Bedarfe oder Präferenzen.
Der persönliche Wert meiner Ziele
Welchen Wert die Ziele für mich hatten wird durch die Gewichte ausgedrückt. Dazu habe ich 10 Punkte auf die beiden Trigger verteilt.
Die erwartete Wahrscheinlichkeit
Die Wahrscheinlichkeit, mit der ich erwartete, die Ziele mit den unterschiedlichen Optionen zu erreichen, drückt sich durch die Werte in den orangefarbenen Feldern aus (entsprechend der Skala unter der Matrix). Der Wert 4 sagt, dass ich die Wahrscheinlichkeit einer schnellen Besserung der Symptome bei einer stationären Behandlung auf 80% einschätzte. Der Wert 2 in dem Feld daneben, sagt, die Wahrscheinlichkeit, dass ich für meine Kunden im Rahmen einer stationären Behandlung weiterhin erreichbar wäre und niemand etwas von meinen Problemen merken würde, lag aus meiner Sicht bei 40%.

Auf diese Art und Weise kann man berechnen, welche Option den größten Nutzen hat. Dazu multipliziert man die Gewichte mit den Bewertungen und addiert die Zeilen (6,0 x 4 + 4,0 x 2 = 32). Insofern hatte die ambulante Option für mich den höchsten Nutzwert.
Eine beinahe tödliche Bauchentscheidung
Die Matrix oben zeigt rückblickend, welche Gedanken mir bei meiner Entscheidung durch den Kopf gegangen sind. Sie stand mir damals nicht zur Verfügung. Letztendlich habe ich die Entscheidung, mich nicht in die Klinik zu begeben, aus dem Bauch heraus getroffen. Damals war mir nicht klar, was eine Bauchentscheidung eigentlich ist und wie gefährlich es sein kann, Entscheidungen, bei denen es um wichtige Fragen der Gesundheit oder Therapieentscheidungen geht, aus dem Bauch heraus zu treffen. Heute weiß ich darüber mehr.
Entscheidungen basieren auf Informationen. Die Gesamtheit der Informationen, die für eine Entscheidung relevant sind, werden durch die Puzzleteile repräsentiert (siehe Abbildung). Das Puzzle ist aber nicht vollständig. Es fehlen Puzzleteile. Man kann die fehlenden Teile in 3 Kategorien einteilen:
- Informationen zu denen wir keinen Zugang haben,
- Informationen, die wir nicht beschaffen können oder wollen,
- Informationen, von denen wir gar nicht wissen, dass es sie gibt.
Aber selbst von den Informationen, die wir haben, berücksichtigen wir nicht alle bei unserer Entscheidung. Die Entscheidungsforschung nennt dafür zwei Hauptgründe. Der eine ist, dass die Anzahl der Informationen, die unser Gehirn verarbeiten kann, begrenzt ist. Der andere Grund ist, dass wir dazu neigen, Informationen bewusst zu ignorieren, die im Widerspruch zu unseren Grundüberzeugungen stehen.

Informationslücken und mangelnde kognitive Ressourcen, alle verfügbaren Informationen bei der Entscheidung zu berücksichtigen, sind also Rahmenbedingungen beim Treffen einer Entscheidung. Deshalb hat unser Gefühl oft einen starken Einfluss. Es ersetzt Wissen und das Denken.
Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt sich meine Entscheidung wie folgt dar:
Fehlende Informationen
Auch wenn ich mich mit dem Krankheitsbild Depression gut auskenne, habe ich im Rahmen meiner Entscheidung nicht über alle relevanten Informationen verfügt.
Nicht berücksichtigte Informationen
Die wichtigste dieser Informationen war, welches Risiko ich mit der Selbsttherapie eingehe. Ich habe meine Suizidgedanken bevor ich das antriebssteigernde Antidepressivum genommen habe, deshalb nicht in die Tat umgesetzt, weil ich den dafür nötigen Antrieb nicht hatte. Das Antidepressivum gab mir den Antrieb. Unter dem Antidepressivum unternahm ich 3 Suizidversuche.
Berücksichtigte Informationen
Bei meiner Entscheidung habe ich nur die Informationen berücksichtigt, die für den Weg sprachen, den ich gegangen bin. Antidepressiva sind wirksame Medikamente, um die Symptome einer Depression zu lindern und in meinem Bekanntenkreis gibt es zwei Personen, die eine schwere Depression hatten und mit Antidepressiva innerhalb von 4 Wochen fast symptomfrei wurden. Die Probleme, die eine Selbstmedikation mit sich bringen, habe ich ignoriert.
Die Verlässlichkeit meines Bauchgefühls
Für Entscheidungen eines Patienten innerhalb eines Krankheitsbildes, von dem er zwar ein gewisses Grundwissen hat, mit dem ihm aber jede Erfahrung fehlt, ist das Bauchgefühl kein verlässlicher Ratgeber.
Wie wichtig die Auseinandersetzung mit Zielen bei Therapieentscheidungen ist
Nach meiner Genesung habe ich mich, wie bereits erwähnt, dem Thema „Entscheidungen“ gewidmet. Zu der Aufarbeitung der Kaskade falscher Entscheidungen, an deren Ende die Suizidversuche standen, gehörte auch die Auseinandersetzung mit dem Psychiater, der mir das Antidepressivum verschrieben hat.
Mit dem Verschweigen meiner Suizidabsichten, habe ich ihn in eine unmögliche Lage gebracht. Denn erst sein Rezept hat mir den Antrieb gegeben, meine Suizidgedanken in die Tat umzusetzen. Viele Patienten mit Depression haben die Gabe, ihr Umfeld perfekt über ihren wahren Zustand zu täuschen. Psychiater wissen das natürlich. Aber kann man ihm einen Vorwurf machen, dass er mir das Antidepressivum verschrieben hat?
Ich habe mit ihm die Frage diskutiert, was er hätte tun können, damit ich mich ihm gegenüber geöffnet hätte. Im Rahmen dieser Diskussion habe ich ihm die Matrix gezeigt, die ich weiter oben schon vorgestellt habe. Der Psychiater hatte damals mit mir überhaupt nicht über Therapieziele gesprochen. Er hat seine Diagnose gestellt, mir ein Medikament verschrieben und mit mir einen Termin zur Psychotherapie abgestimmt.
Wir haben durchgespielt, wie das Gespräch gelaufen wäre, wenn er meine Therapieziele thematisiert und wir die Matrix zur Visualisierung meiner Entscheidung genutzt hätten. Der obere Teil der Abbildung wäre das Ergebnis gewesen (es entspricht der Abbildung oben). Daraufhin fragte mich der Psychiater, was ich von dem Ziel „Minimierung des Therapierisikos“ halten würde. Wir haben es in die Matrix eingetragen.
An dieses Ziel habe ich damals überhaupt nicht gedacht, obwohl es so nahe liegt. Im Kontext mit dem Risiko, das mit der Einnahme des antriebssteigernden Antidepressivums verbunden ist, hätte dieses Ziel vermutlich auch damals für mich ein hohes Gewicht gehabt. Durch das Hinzufügen eines dritten Ziels und die neue Gewichtung ändern sich auch die Nutzwerte. Nun hat die stationäre Option den höchsten Nutzwert.
Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, wie das Gespräch verlaufen wäre, wenn der Psychiater damals die Matrix genutzt oder zumindest mit mir über meine Ziele im Rahmen der Therapie gesprochen hätte. Ich hätte meine Suizidgedanken vermutlich immer noch nicht offenbart, aber mein Denken hätte eine ganz andere Richtung bekommen. Die untere Abbildung zeigt, wie ich aus heutiger Sicht damals die Matrix ausgefüllt hätte.
Der Psychiater jedenfalls nutzt seit dieser Zeit die Matrix. Denn sie führt den Patienten nicht nur strukturiert durch den Entscheidungsprozess, sondern durch die Visualisierung der Entscheidung erhält das Gespräch mit dem Patienten eine ganz andere Qualität.
Wenn Sie die Matrix selbst nutzen wollen, können Sie sie hier -> herunterladen.
