Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen.
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Der Text unter dem Motiv:
Das Bild zeigt eine Tablette mit einer Bremse – ein Hinweis: Wer ein vom Arzt verschriebenes Arzneimittel nicht einnehmen oder eigenmächtig absetzen will, sollte innerlich auf die Bremse treten.
Viele Patient:innen entscheiden vorschnell, weil sie sich auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen konzentrieren – ohne das tatsächliche Risiko der Erkrankung abzuwägen. Oft geschieht das aus dem Bauch heraus, nicht aus böser Absicht. Ein möglicher Grund: Sie stellen sich nicht die Frage: „Wie hoch ist mein Risiko wenn ich diese Entscheidung treffe?“ Stattdessen ersetzt das Gehirn diese komplexe Frage unbewusst durch eine einfachere, gefühlsbasierte: „Fühle ich mich krank genug für Tabletten?“ oder „Macht mir das Medikament ein ungutes Gefühl?“.
Die richtige Antwort auf die falsche Frage kann schwerwiegende Folgen haben. Wenn Sie Zweifel an einem Arzneimittel haben, das Ihnen verschrieben wurde oder Probleme mit der Einnahme, treffen Sie keine voreilige Entscheidungen sondern sprechen Sie uns an.

Hermanns Geschichte ist ein typisches Beispiel. Kurz nachdem er das Medikament, das ihn vor einem Schlaganfall schützen sollte, abgesetzt hat, erlitt er tatsächlich einen Schlaganfall. Er hat mich kontaktiert, weil er dazu beitragen wollte, dass andere Patient:innen nicht den gleichen Fehler machen, wie er.
Anmerkung: Hermann wollte anonym bleiben. Deshalb haben wir Name und Foto geändert.
Autor: Peter Jungblut

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Hermanns Entscheidung
Hermann hat seit mehreren Jahren einen Diabetes mellitus. Anfangs versuchte er, die Erkrankung durch eine Umstellung seiner Ernährung und mit Sport in den Griff zu bekommen. Nachdem er einsah, dass das nicht zum gewünschten Erfolg führte, war er bereit, ein Medikament zur Regulierung seines Blutzuckerspiegels einzunehmen. Vor knapp zwei Jahren kam ein Herzproblem hinzu. Er bemerkte, dass sein Herz zeitweise immer mal schneller und unregelmäßig schlug, obwohl er dafür keine Ursache erkennen konnte. Sein Arzt meinte, dass sein „natürlicher Herzschrittmacher“ manchmal aus dem Takt komme. Das sei nicht weiter schlimm, müsse aber beobachtet werden. Allerdings würde sich dadurch sein Schlaganfallrisiko erhöhen. Deshalb verschrieb ihm sein Arzt ein Arzneimittel, das ihn vor einem Schlaganfall schützen sollte. Vor einigen Wochen setzte er das Arzneimittel ohne Rücksprache mit dem Arzt ab. Kurze Zeit später erlitt er tatsächlich einen Schlaganfall.

Hermanns Geschichte*
Ich nehme nicht gerne Arzneimittel. Deshalb habe ich versucht, meinen Diabetes durch eine gesündere Ernährung und Sport in den Griff zu bekommen. Aber ich musste einsehen, dass ich die Umstellung meines Lebensstils nicht konsequent durchhalten konnte und habe zähneknirschend das Medikament genommen, das der Arzt mir verschrieben hat. Sie können sich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich dann auch noch ein Arzneimittel gegen einen Schlaganfall nehmen sollte. Aber mein Vater hatte einen Schlaganfall. Ein solches Desaster wollte ich mir unbedingt ersparen – auch wenn mich der Beipackzettel des Arzneimittels nicht gerade begeistert hat.
Mit der Zeit geriet mein natürlicher Herzschrittmacher immer seltener aus dem Takt. Trotzdem habe ich das Medikament weiter genommen. Allerdings habe ich es öfter mal vergessen einzunehmen. Kürzlich war ich im Urlaub und habe das Medikament zuhause liegen lassen. Nach dem Urlaub habe ich es dann ganz weggelassen. Ich habe das Risiko, tatsächlich einen Schlaganfall zu bekommen, nicht mehr ernst genommen. Das war wohl ein großer Fehler.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschichte eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Hermann ließ bei unserem Gespräch keinen Zweifel daran, dass das Thema „Arzneimittel“ für ihn ein risikobehaftetes Thema ist. Bevor ich auf die Frage eingehe, warum Hermann das Arzneimittel abgesetzt hat, das ihn vor einem Schlaganfall schützen sollte, will ich deshalb zunächst auf unsere Risikowahrnehmung in Bezug auf Arzneimittel eingehen.
Wie Risikowahrnehmung Medikamentenentscheidungen beeinflusst.
Unsere Entscheidung, ob wir ein Arzneimittel einnehmen oder nicht, hängt oft weniger von objektiven Informationen ab als von unserer inneren Haltung. Der amerikanische Psychologe Paul Slovic, ein Pionier auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung, konnte zeigen: Menschen beurteilen Risiken nicht neutral, sondern emotional. Wer einer Technologie skeptisch gegenübersteht, sieht vor allem ihre Gefahren – und blendet mögliche Vorteile aus. Das gilt nicht nur für Atomkraft oder Konservierungsstoffe, sondern auch für Medikamente.
In einer bekannten Studie ließ Slovic Versuchspersonen risikobehaftete Themen bewerten, etwa die Arbeit von Chemiefabriken oder den Einsatz von Zusatzstoffen in Lebensmitteln. Menschen mit einer negativen Grundeinstellung schätzten die Risiken dieser Themen systematisch höher ein als den möglichen Nutzen – selbst dann, wenn objektive Informationen dagegensprachen. Besonders bemerkenswert: Wenn zusätzlich risikobetonte Kommentare eingeblendet wurden, verstärkte sich diese Verzerrung. Die Risiken wurden noch höher eingeschätzt, der Nutzen noch geringer [1].
Diese Mechanismen lassen sich direkt auf Arzneimittel übertragen. Meine Gespräche mit Patient:innen zeigen immer wieder: Wer Medikamenten gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt ist, überschätzt deren Risiken – und unterschätzt das Risiko, das mit dem Absetzen oder Weglassen der Therapie verbunden ist. Dieses verzerrte Bild hat oft mehr Einfluss auf Entscheidungen als medizinische Fakten.
Ein Blick auf die Grafik bestätigt: Ein erheblicher Teil der Mitteleuropäer ist Arzneimitteln gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt.
Diese Haltung entsteht nicht im luftleeren Raum. In Deutschland hören Millionen Menschen täglich im Radio und Fernsehen den bekannten Satz:
„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“
So sinnvoll dieser Hinweis aus rechtlicher und ethischer Sicht ist, so problematisch kann er psychologisch wirken. Denn er primt – also konditioniert – die Zuhörenden immer wieder auf ein zentrales Thema: Risiken. Der ständige Fokus auf mögliche Nebenwirkungen kann dazu beitragen, dass genau diese Risiken im Vordergrund der Wahrnehmung stehen, während der Nutzen eines Medikaments unsichtbar bleibt – denn dieser ist oft abstrakt, präventiv, nicht unmittelbar spürbar.
In Verbindung mit Slovics Erkenntnissen ergibt sich ein schlüssiges Bild: Wer ohnehin eine kritische Grundhaltung gegenüber Arzneimitteln hat, wird durch ständige Risikobetonung zusätzlich darin bestätigt – und neigt umso eher dazu, das Nutzen-Risiko-Verhältnis falsch einzuschätzen. Die Folge: Medikamente werden vorschnell abgelehnt oder abgesetzt, selbst wenn sie einen nachweislichen Schutz bieten.

Das Problem der verdeckten intentionalen Non-Adhärenz.
Ein weiterer Aspekt, der Hermanns Fall besonders brisant macht, ist das Phänomen der verdeckten intentionalen Non-Adhärenz. Hermann hatte das Schlaganfall-Medikament abgesetzt – aber seinem Arzt gegenüber den Eindruck erweckt, er nehme es weiterhin ein. Dieses Verhalten ist kein Einzelfall: Viele Patient:innen entscheiden sich bewusst gegen ein Arzneimittel, ohne dies offen anzusprechen. Sie vermeiden die Konfrontation, aus Unsicherheit, Scham oder dem Wunsch, keine Diskussion auszulösen.
Was bedeutet verdeckte intentionale Non-Adhärenz?
Im Gegensatz zur unbeabsichtigten Non-Adhärenz – etwa durch Vergessen – handelt es sich hier um eine bewusste Entscheidung gegen die Therapie, die dem Arzt oder der Ärztin nicht mitgeteilt wird. Es entsteht ein Kommunikationsdefizit, das weitreichende Folgen haben kann.
Auswirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung
Verdeckte Non-Adhärenz untergräbt das Vertrauen, das die Grundlage jeder gelingenden Arzt-Patienten-Beziehung ist – allerdings in beide Richtungen. Wenn der Arzt nicht erfährt, dass das Medikament abgesetzt wurde, geht er fälschlicherweise davon aus, die verordnete Therapie werde umgesetzt. Er interpretiert Symptome oder Krankheitsverläufe dann möglicherweise falsch – und trifft darauf aufbauend weitere Entscheidungen, die nicht mehr zur tatsächlichen Situation passen.
Das führt zu einem Teufelskreis:
- Der Patient vermeidet das Gespräch, um Konflikte zu umgehen.
- Der Arzt geht von Therapieversagen oder Krankheitsprogression aus.
- Die Therapie wird vielleicht unnötig intensiviert, um auf scheinbar ausbleibende Wirkung zu reagieren.
- Die eigentliche Ursache – die fehlende Einnahme – bleibt unentdeckt.
Erscheinungsformen der Non-Adhärenz
Es gibt zwei Hauptgründe, warum Patienten das vom Arzt verschriebene Arzneimittel nicht einnehmen oder absetzen. Der eine ist, sie haben Schwierigkeiten mit der Einnahme, wie es z. B. bei Augentropfen vorkommen kann. Oder sie vergessen das Arzneimittel immer wieder. In solchen Fällen sprechen Experten von der „nicht-intentionalen Non-Adhärenz“ (der Patient entscheidet sich nicht grundsätzlich gegen das Arzneimittel).
Neben den Merkmalen „intentional“ und „nicht-intentional“ gibt es noch ein weiteres wichtiges Kriterium. Hermann hat seinen Arzt in dem Glauben gelassen, er würde das Medikament weiterhin einnehmen. Experten sprechen in solchen Fällen von der „verdeckten intentionalen Non-Adhärenz“. Die Abbildung zeigt drei Szenarien, wie sich Patienten mit Problemen bei der Einnahme von Arzneimitteln verhalten können.

Auswirkungen in Hermanns Fall
Im Fall von Hermann hatte diese verdeckte Non-Adhärenz tragische Folgen: Der Arzt wusste nicht, dass das Medikament abgesetzt worden war – und konnte dementsprechend weder warnen noch gegensteuern. Er konnte auch nicht aufklären oder nach Alternativen suchen.
Stattdessen entstand die Illusion einer funktionierenden Therapie – bis der Schlaganfall eintrat.
Hermann hat eine Vorgeschichte, wie sie viele Menschen kennen: Er hat Diabetes, sollte regelmäßig Medikamente einnehmen und bekam zusätzlich ein Mittel verschrieben, das ihn vor einem Schlaganfall schützen sollte. Aber irgendwann setzte er dieses Medikament ab – und erlitt kurze Zeit später tatsächlich einen Schlaganfall.
Warum handeln Menschen manchmal so, obwohl sie wissen, dass ein Medikament wichtig ist?
Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert. Ohne es zu merken, unterliegen wir Denkfehlern, die unsere Entscheidungen beeinflussen.
Warum Hermann sein Medikament abgesetzt hat – und was wir daraus lernen können.
Hermann wurde ein Medikament verschrieben, das sein Risiko für einen Schlaganfall deutlich senken sollte. Er nahm es eine Zeit lang ein – zunächst zähneknirschend, später mit nachlassender Konsequenz. Schließlich setzte er es ganz ab. Ohne Rücksprache. Wenige Wochen später erlitt er einen Schlaganfall.
War das eine unvernünftige Entscheidung? Nicht unbedingt – zumindest nicht aus Hermanns Sicht. Seine Geschichte zeigt, wie Entscheidungen in der Praxis oft nicht auf rationaler Abwägung medizinischer Fakten beruhen, sondern auf intuitiven Bewertungen und kognitiven Abkürzungen.
Der zentrale Mechanismus hinter Hermanns Entscheidung war die sogenannte Substitution.
Statt sich der eigentlichen, schwierigen Frage zu stellen –
„Wie hoch ist mein Schlaganfallrisiko mit und ohne dieses Medikament?“
– beantwortete er unbewusst eine einfachere Frage:
„Fühle ich mich gerade gesund genug, um auf das Medikament zu verzichten?“
Diese intuitive Ersatzfrage ist leicht zu beantworten, aber sie führt auf einen völlig anderen Weg. Hermann hatte sich nicht gegen das Medikament trotz des Risikos entschieden – sondern weil das Risiko für ihn im Moment nicht greifbar war. Der Kartensatz ist ein gutes Training, um Denkfehler zukünftig zu vermeiden. Sie finden ihn in unserem Online Shop.

Hinzu kamen zwei weitere psychologische Effekte:
Gegenwartsverzerrung (Present Bias):
Der kurzfristige Zustand („Mir geht’s doch gut“) wog schwerer als das abstrakte, zukünftige Risiko. Der Nutzen des Medikaments war unsichtbar – das Absetzen dagegen spürbar bequem.
Unser Gehirn legt mehr Wert auf das, was jetzt spürbar ist, als auf Dinge, die erst in der Zukunft passieren könnten. Medikamente erinnern uns an Krankheit, können Nebenwirkungen haben oder einfach lästig sein. Das fühlt sich sofort unangenehm an.
Ein Schlaganfall hingegen? Der liegt in der Zukunft – also weit weg. Und was weit weg ist, wird von uns oft unterschätzt, obwohl es gefährlich sein kann. Die Kontrollillusion wirkt häufig Hand in Hand mit der Gegenwartsverzerrung.

Hermann hatte den Eindruck, dass es ihm besser ging: „Mein Herz kam seltener aus dem Takt.“ Das gab ihm das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben – auch ohne das Medikament.
Diese sogenannte Kontrollillusion führt dazu, dass man Risiken herunterspielt: „Ich weiß ja, wie mein Körper funktioniert. Ich merke schon, wenn etwas nicht stimmt.“ Leider stimmt das oft nicht – viele Krankheiten entwickeln sich still und schleichend.

Was wir daraus lernen können
Für Patient:innen: Entscheidungen über Medikamente sollten nicht nur auf dem aktuellen Befinden beruhen. Fragen Sie sich: Welche Funktion erfüllt dieses Arzneimittel – auch wenn ich mich gerade gesund fühle? Und vor allem: Was könnte passieren, wenn ich es absetze?
Für Ärzt:innen und Apotheker:innen: Information allein reicht oft nicht. Es hilft, Patient:innen nicht nur aufzuklären, sondern sie aktiv dabei zu unterstützen, sich die richtige Frage zu stellen. Denn wer eine falsche Frage beantwortet, trifft keine falsche Entscheidung – aber eine gefährlich unpassende.
Hermanns Fall ist kein Einzelfall. Viele Patient:innen handeln ähnlich – aus dem Bauch heraus, mit besten Absichten. Genau deshalb brauchen sie Partner im Gesundheitssystem, die ihre Denkweise verstehen und ihnen helfen, tragfähige Entscheidungen zu treffen.
Quelle:
[1] Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: „Risk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationality“, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis