Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen!
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Samstagnachmittag in einem ausverkauften Fußballstadion. Kurz vor Schluss steht es noch 0:0. Es geht hitzig hin und her. Der Stürmer der einen Mannschaft kommt in eine aussichtsreiche Schussposition, wird aber von seinem Gegenspieler in letzter Sekunde geblockt. Der Schiedsrichter hat ein Foul gesehen und pfeift. Mit ihm pfeifen 50.000 Zuschauer. Während der eine Teil sich darüber aufregt, dass der Schiedsrichter dem Verteidiger nicht mindestens eine gelbe Karte zeigt, beschimpft der andere Teil den Schiedsrichter, weil er überhaupt ein Foul gepfiffen hat. Beide Gruppen haben das selbe gesehen, aber etwas anderes wahrgenommen (für wahr genommen).
Dieses Phänomen kann man auch beobachten, wenn man mit zwei Patienten über Arzneimittel spricht. Beide haben die gleiche Information, aber jeder nimmt etwas anderes „für wahr“. Für den einen ist das Arzneimitteln in erster Linie ein hilfreiches Instrument zur Behandlung seiner Erkrankung, während der andere vor allem die Risiken im Blick hat. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir die Position des Schiedsrichters einnehmen würden. Stattdessen wollen wir Recht behalten und suchen vor allem nach Informationen, die uns in unserer Grundauffassung bestätigen. Was unser Weltbild ins Wanken bringt, ignorieren wir.
Wenn Sie Zweifel an dem Arzneimittel haben, das Ihnen Ihr Arzt verschrieben hat, handeln Sie nicht nach dem Motto „Meine Meinung steht fest“, sondern sprechen Sie Ihren Arzt an.

Ritas Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, wie sich Überzeugungen verankern und zu Entscheidungen führen können, die den Therapieerfolg gefährden. Wenn man genauer hinschaut, ist es eher die Geschichte von Erwin, Ritas Ehemann.
Anmerkung: Rita wollte anonym bleiben. Deshalb haben wir Name und Foto geändert.

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Erwins Entscheidung
Erwins Ehefrau Rita, 36 Jahre alt, wurde wegen Angststörungen und Panikattacken in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort wurde sie auf das Medikament Tavor eingestellt. Als Erwin sie zum ersten Mal besuchte, erzählt sie ihm, dass ihre Panikattacken unter dem Medikament nachgelassen haben. Am nächsten Tag kam Erwin wieder und bat sie dringend, das Medikament nicht weiter einzunehmen. Rita folgte der Empfehlung ihres Ehemannes, ließ ihre Ärzte jedoch in dem Glauben, dass sie Tavor weiterhin nimmt. Rita war insgesamt 3 Monate in der Klinik, viel länger als die meisten anderen Patienten.
In der Klinik sah Erwin das Poster „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen.“ und rief mich an. Es war die erste Reaktion überhaupt, die ich auf meine Poster erhielt. Sie unterschied sich zum Glück völlig von den späteren Reaktionen, denn Erwin lies kein gutes Haar an mir und meiner Idee. Dennoch war Erwin zu einem Treffen bereit. Auch Rita war dabei.

Erwins Geschichte*
Nachdem mir meine Frau sagte, die Ärzte der Klinik hätten ihr Tavor gegeben, gingen bei mir sämtliche Alarmglocken an. Ich bin sofort nach Hause und habe recherchiert. Meine Vermutung hat sich schnell bestätigt, Tavor ist Teufelszeug. Wie können Ärzte ihren Patienten so etwas antun. Nach allem, was meine Frau durchgemacht hat, konnte ich nicht zulassen, dass sie nun auch noch von Medikamenten abhängig gemacht wird*.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschicht eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Tavor zählt den sogenannten Benzodiazepinen. Benzodiazepine sind die Mittel der Wahl zur kurzdauernde Behandlung für die von Angstzuständen und Panikattacken. Bei länger er Anwendung besteht ein erhöhtes Suchtrisiko. Ritas Ärzte haben das Medikament nach 14 Tagen Schritt für Schritt abgesetzt.
Der amerikanische Psychologe Paul Slovic gilt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. In einer seiner wichtigsten Studien bat er Probanden, ihre emotionale Grundeinstellung zu risikobehafteten Themen zu äußern, etwa zu den Themen „Konservierungsmittel in Lebensmitteln“ oder „die Arbeit von Chemiefabriken“. Menschen, die eine negative Grundeinstellung zu einer Technologie hatten, listeten mehr Risiko- als Nutzenaspekte auf, und umgekehrt.
Im zweiten Teil wurden die risikobehafteten Themen von den Versuchsleitern mit Kommentaren versehen. Das Ergebnis: Eine starke Betonung der Risiken führte dazu, dass die Teilnehmenden die Risiken noch höher einschätzten und den Nutzen noch geringer bewerteten (Waage rechts).
Spätestens seit Slovics Veröffentlichungen wissen wir, dass Menschen die Chancen und Risiken von Technologien nicht objektiv einschätzen. Meine Gespräche mit Patienten haben immer wieder gezeigt: Je negativer die Grundeinstellung eines Patienten Arzneimitteln gegenüber ist, umso größer schätzt er die Risiken des Arzneimittels ein und umso geringer erscheint ihm das Risiko, das Arzneimittel nicht einzunehmen.
Quelle:
Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: „Risk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationality“, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis

Erwin ließ bei unserem Treffen keinen Zweifel daran, dass für ihn auch die Anwendung von Arzneimitteln ein risikobehaftetes Thema ist. Er ist damit nicht alleine.
Wie sieht die Risikowahrnehmung bei Arzneimitteln aus?
Der amerikanische Psychologe Paul Slovic gilt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. In einer seiner wichtigsten Studien bat er Probanden, ihre emotionale Grundeinstellung zu risikobehafteten Themen zu äußern, etwa zu den Themen „Konservierungsmittel in Lebensmitteln“ oder „die Arbeit von Chemiefabriken“. Menschen, die eine negative Grundeinstellung zu einer Technologie hatten, listeten mehr Risiko- als Nutzenaspekte auf, und umgekehrt [1].
Im zweiten Teil wurden die risikobehafteten Themen von den Versuchsleitern mit Kommentaren versehen. Das Ergebnis: Eine starke Betonung der Risiken führte dazu, dass die Teilnehmenden die Risiken noch höher einschätzten und den Nutzen noch geringer bewerteten (Waage rechts).
Spätestens seit Slovics Veröffentlichungen wissen wir, dass Menschen die Chancen und Risiken von Technologien nicht objektiv einschätzen.

Meine Gespräche mit Patienten haben immer wieder gezeigt: Je negativer die Grundeinstellung eines Patienten Arzneimitteln gegenüber ist, umso größer schätzt er die Risiken des Arzneimittels ein und umso geringer erscheint ihm das Risiko, das Arzneimittel nicht einzunehmen.

Analysen des Verhaltens von Verbrauchern zeigen, dass sich die Erkenntnisse aus Slovics Studie auch in der Gesellschaft widerspiegeln. Die Grafik unten zeigt exemplarisch an einem konkreten Beispiel das Ergebnis solcher Analysen: Ein erheblicher Anteil der Mitteleuropäer ist Arzneimitteln gegenüber grundsätzlich skeptisch gegenüber eingestellt. Sie versuchen immer die Einnahme von Medikamenten zu vermeiden. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob in den Gesellschaften, wo die Menschen besonders kritisch gegenüber Arzneimitteln sind, die Betonung der Risiken von Arzneimitteln lauter und stärker ist als die Betonung des Nutzens. Zumindest in Deutschland werden die Verbraucher nur bei Zigaretten mehr auf das Thema „Risiko“ konditioniert als bei Arzneimitteln. Jede Arzneimittelwerbung endet mit dem Spruch „Zu Risiken und Nebenwirkungen …“. Menschen mit hohem Radio- oder Fernsehkonsum hören diesen Satz x-mal am Tag.

In der Grafik werden die Begriffe „Adhärenz“, bzw. „Non-Adhärenz“ verwendet. Adhärenz beschreibt, in welchem Umfang ein Patient die mit dem Arzt vereinbarten Therapiemaßnahmen umsetzt. Die genaue Definition laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet: Das Ausmaß, in dem das Verhalten einer Person Medikamente einzunehmen, eine Diät einzuhalten und/oder Änderungen des Lebensstils durchzuführen, mit den vom Patienten akzeptierten Empfehlungen des Gesundheitsdienstleisters übereinstimmt.
Sicherlich ändert sich die Einstellung eines Befragten, wenn er zum Patienten wird. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass diese negative Grundhaltung gegenüber Arzneimitteln auch dazu beiträgt, dass Menschen die vom Arzt verschriebenen Arzneimittel nicht einnehmen oder eigenmächtig wieder absetzen. Es gibt allerdings keine verlässlichen Daten über die Adhärenzquoten in den einzelnen Ländern, insofern ist diese Vermutung reine Spekulation.
Das Problem zieht sich quer durch alle Krankheitsbilder, unabhängig von Schweregrad der Erkrankung. Für Herzinfarktpatienten konnte z. B. gezeigt werden, dass innerhalb von bis zu vier Monaten nach dem Infarkt nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten ihr Rezept einlösen, mit rückläufiger Tendenz im weiteren Zeitverlauf [2]. Ähnliche Beobachtungen gibt es bei der Herzinsuffizienz. Unter Patienten, die zumindest zwei Rezepte nach der Erstverschreibung eingelöst haben, sind nach einem Jahr nur noch zwei Drittel in der Therapie; nach zwei Jahren ist es nur noch ein Drittel [3]. Für Glaukompatienten (die Erkrankung kann zum Verlust der Sehkraft führen, wenn sie unbehandelt bleibt) konnte gezeigt werden, dass viele Patienten ihre Augentropfen jeweils nur kurz vor dem Arzttermin einnehmen. Die Non-Adhärenzquote (die Quote der Patienten, die das Arzneimittel nicht oder nicht regelmäßig einnehmen) bei dieser Studie lag bei 30,3% [4]
Quellen:
[1] Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: „Risk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationality“, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis
[2] Jackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36
[3] Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95
[4] Gurwitz JH, Glynn RJ, Monane M, Everitt DE, Gilden D, Smith N, Avorn J. Treatment for glaucoma: adherence by the elderly. Am J Public Health. 1993 May;83(5):711-6. doi: 10.2105/ajph.83.5.711. PMID: 8484454; PMCID: PMC1694682.
Die Analyse von Erwins Entscheidung.

Bei unserem Treffen habe ich Erwin gebeten, seinen Namen in das entsprechende Feld auf der Karte „Wie stehen Sie zu Arzneimitteln“ zu schreiben. Ohne zu zögern trug er seinen Namen in Feld 1 und übernahm die Aufgabe für Rita gleich mit. Diese Idee ist durch die Studie von Slovic inspiriert, die zeigt, dass die Grundeinstellung zu einem Thema die Risikowahrnehmung beeinflusst. Die Visualisierung dieser Grundeinstellung ist eine wichtige Basis für solche Gespräche. Entsprechend der Positionierung von Rita auf der Karte, klang ihre Geschichte ganz anders:
Entsprechend der Positionierung von Rita auf der Karte, klang ihre Geschichte ganz anders:

Ich litt unter schweren Panikattacken. Die Ärzte gaben mir Tavor, und es ging mir schnell besser. Mein Mann war außer sich, nachdem er Tavor googelte und bat mich dringend, das Medikament nicht weiter einzunehmen. Ich habe Tavor natürlich auch gegoogelt. Klar, Tavor hat ein hohes Abhängigkeitspotenzial, wenn man fahrlässig damit umgeht. Aber man muss doch auch sehen, welche Wirkung das Medikament hat. Mir ging es schon drei Tage, nachdem ich mit der Therapie begonnen habe, wesentlich besser. Aber das ließ mein Mann nicht gelten. Er meinte, Tavor sei Teufelszeug und Ärzte seien nichts als Handlanger der Pharmaindustrie. Letztendlich habe ich nachgegeben und Tavor nicht mehr eingenommen. Meine Panikattacken nahmen wieder zu und wurden wieder schlimmer. Die Ärzte erhöhten daraufhin die Dosis. Sie wussten ja nicht, dass ich das Medikament im Klo entsorgte. Nach einer Woche setzten sie Tavor ab.
Die entscheidende Frage bei der Analyse der Entscheidung ist, warum Rita und Erwin bei ihren Recherchen zu völlig unterschiedlichen Urteilen kamen. Die Entscheidungswissenschaften geben darauf eine einfache Antwort. Der Grund dafür ist die Selbstbestätigungsfalle. Die Selbstbestätigungsfalle ist ein Phänomen, dass zur Gruppe der systematischen Fehler beim Wahrnehmen, Urteilen und Erinnern gehört. Innerhalb dieser Gruppe gehört sie zur Kategorie „kognitive Leichtigkeit“. Mehr dazu erfahren Sie im Rahmen von Renates Entscheidung.
Die Karte rechts ist ein Element das Kartensatzes „Gute Karten für bessere Patientenentscheidungen“. Jede Karte beschreibt einen systematischen Fehler beim Wahrnehmen, Urteilen und Erinnern. Auf der Rückseite jeder Karte befindet sich ein Tipp, wie man ihn erkennen und wie man verhindern kann, dass er zu falschen Urteilen und Entscheidungen führt. Sie finden den Kartensatz im Onlineshop.

Wir tappen in diese Falle vor allem, wenn Emotionen im Spiel sind. In solchen Fällen wollen wir einfach recht behalten und auf unserem Standpunkt bleiben, auch wenn die Fakten dagegen sprechen. Der Schritt in die Falle begann bei Erwin schon mit der Fragestellung. Anders als Rita, die einfach den Suchbegriff „Tavor“ in Google eingab, hat Erwin nach „Tavor Risiken“ gegoogelt.
Wenn man nur Tavor als Suchbegriff eingibt, bekommt man relativ neutrale Informationen, wobei der Hinweis auf das Suchtpotenzial durchaus prominent erscheint. Ganz anders ist das Ergebnis, wenn man nach Tavor in Verbindung mit dem Begriff „Risiken“ sucht. So fand Erwin aufgrund seiner negativen Grundeinstellung gegenüber Arzneimitteln genügend Argumente, um seiner Frau gegenüber entsprechend auftreten zu können.

„Das ist Beihilfe zur Sucht.“
„Das ist Beihilfe zur Sucht“ war die Überschrift eines Artikels im „Spiegel“ über Tavor aus dem Jahr 2009. Der Artikel startet mit der Beschreibung einer Situation, in der eine Ärztin einem Studenten eine Großpackung Tavor zur Linderung seiner Prüfungsstresssymptome verordnet, nicht ohne den Warnhinweis, „Tavor könne Leben zerstören“. Der Artikel beschreibt, wie der Student in die Sucht hineinglitt und letztendlich ohne fremde Hilfe nicht mehr lebensfähig war. Ein anderer Artikel des gleichen Magazins bejubelte Tavor Jahre zuvor mit der Schlagzeile „Tavor entzieht der Angst den Boden“. Anfangs von der Presse hochgelobt, setzen sich seit Ende der 90er Jahre die meisten Berichte äußerst kritisch mit dem Medikament auseinander. Der jüngste Artikel, man dazu in der großen Publikumspresse finden kann, wurde vom „Stern“ im Jahr 2017 veröffentlicht („Pille Palle – warum Beruhigungsmittel gefährlicher sind als Heroin“).
Das Problem der verdeckten Non-Adhärenz.
Es gibt zwei Hauptgründe, warum Patienten das vom Arzt verschriebene Arzneimittel nicht einnehmen oder absetzen. Der eine ist, sie haben Schwierigkeiten mit der Einnahme, wie es z. B bei Augentropfen vorkommen kann. Oder sie vergessen das Arzneimittel immer wieder. In solchen Fällen sprechen Experten von der „nichtintentionalen Non-Adhärenz“.
Ritas Fall repräsentiert den anderen Hauptgrund: Die Patienten treffen die Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen, weil sie selbst oder ein wichtiger Influencer der Überzeugung ist, dass es ihnen nicht hilft oder gar schadet.
Neben der intentionalen und der nicht-intentionalen Adhärenz gibt es noch ein weiteres wichtiges Merkmal. Rita hat ihre Ärzte in dem Glauben gelassen, sie würde Tavor weiterhin einnehmen. Experten sprechen in solchen Fällen von der „verdeckten intentionalen Non-Adhärenz“. Die Abbildung zeigt drei Szenarien, wie sich Patienten mit Problemen bei der Einnahme von Arzneimitteln verhalten können.

Problematisch ist vor allem, wenn Patienten ihr Problem verschweigen oder ihre Ärzte sogar täuschen, wie es bei Rita der Fall war. Ist die Non-Adhärenz unbeabsichtigt (Szenario 3) vergeben die Patienten die Chance, dass ihr Arzt ihnen eine Lösung des Problems anbieten kann. Dieses Szenario führt jedoch in vielen Fällen zu einer falschen Beurteilung der aktuellen Therapie durch den Arzt. Möglicherweise war das einer der Gründe für Ritas überdurchschnittlich langen Klinikaufenthalt.
Die optimistische Verzerrung
Im Zusammenhang mit Erwins Entscheidung habe ich die Selbstbestätigungsfalle erwähnt. Sie gehört zu einer Gruppe von gut erforschten systematischen Fehlern beim Erinnern, Wahrnehmen und Entscheiden (Urteilsfehler). Abschließend zu dem Poster „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen!“ will ich noch auf einen zweiten Urteilsfehler eingehen, der bei Patienten weit verbreitet ist.
Der optimistischen Verzerrung gehört zur Kategorie „Falsch Selbsteinschätzung“ (mehr dazu finden Sie im Rahmen von Renates Entscheidung). Wir begegnen ihr in nahezu allen Lebensbereichen. So überschätzen etwa 80% der Menschen ihre Lebenserwartung, ihre Einkommensentwicklung, die Dauer ihrer Ehe und noch vieles mehr, gemessen an den statistischen Wahrscheinlichkeiten. Gleichzeitig unterschätzen sie ihr Risiko, krank, arbeitslos etc. zu werden.

Folgt man der Neurowissenschaftlerin Tali Sharot, scheint der Hang zur optimistischen Verzerrung angeboren zu sein und ein Leben lang zu halten, auch wenn die Lebenserfahrung dagegenspricht. Dazu passt auch die Erkenntnis, dass Menschen ihre Prognosen nur bedingt anpassen. Wer sein Krebsrisiko überschätzt hat, korrigiert es nach unten, wenn man ihm die Statistik zeigt. Wer es unterschätzt hat, bleibt eher bei seiner Einschätzung [1].
Der Grat zwischen Optimismus und Optimistischer Verzerrung ist schmal. Optimismus ist eine starke Kraft in unserem Leben, die uns viele Türen öffnet. Einer der wichtigsten Vorteile einer optimistischen Grundeinstellung ist, dass Optimismus Beharrlichkeit fördert. Wenn der Optimismus im Hinblick auf die Erreichung eines Ziels allerdings auf einer verzerrten Wahrnehmung, bzw. auf einem Urteilsfehler basiert, dann wird manche der positiven Eigenschaften, die ein Optimist mitbringt, zum Glatteis. Insbesondere die Beharrlichkeit kann unter Umständen sehr kostspielig werden.
Bestätigt wird diese These z. B. durch eine Studie des Ökonomen Thomas Åstebro [2]. Er hat die Daten einer kanadischen Organisation ausgewertet, die die Chancen von Erfindungen beurteilt. Beurteilungen, die unmissverständlich ein Scheitern der Idee prognostizieren, bringen etwa die Hälfte der Erfinder zum Aufgeben ihrer Idee. Die andere Hälfte macht beharrlich weiter und verdoppelt am Ende ihre anfänglichen Verluste. Im Studienzeitraum wurden nur 5 von 411 dieser sehr negativ beurteilten Projekte kommerzialisiert, und keines davon war erfolgreich.
Wenn ich Patienten, die die Entscheidung getroffen haben, das vom Arzt verschriebene Medikament nicht einzunehmen, mit der Aussage konfrontiere, dass solche Entscheidungen nachgewiesenermaßen das Risiko von Komplikationen und Krankenhauseinweisungen vergrößert, vertreten die meisten zwar die Meinung, das könne schon sein, bei sich selbst jedoch erwarten sie solche Konsequenzen nicht.
Quellen:
[1] Sharot, T., Riccardi, A., Raio, C., Phelps, E.: „Neural mechanisms mediating optimism bias.“, Nature
[2] Thomas Åstebro, „The Return to Independent Invention: Evidence of Unrealistic Optimism, Risk Seeking or Skewness Loving?“, Economic Journal 113 (2003): S. 226 – 239.