Üben Sie Zurückhaltung mit der Verankerung Ihrer Überzeugungen.
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Der Text unter dem Motiv:
Samstagnachmittag in einem ausverkauften Fußballstadion. Kurz vor Schluss steht es noch 0:0. Es geht hitzig hin und her. Der Stürmer der einen Mannschaft kommt in eine aussichtsreiche Schussposition, wird aber von seinem Gegenspieler in letzter Sekunde geblockt. Der Schiedsrichter hat ein Foul gesehen und pfeift. Mit ihm pfeifen 50.000 Zuschauer. Während der eine Teil sich darüber aufregt, dass der Schiedsrichter dem Verteidiger nicht mindestens eine gelbe Karte zeigt, beschimpft der andere Teil den Schiedsrichter, weil er überhaupt ein Foul gepfiffen hat. Beide Gruppen haben das selbe gesehen, aber etwas anderes wahrgenommen (für wahr genommen).
Dieses Phänomen kann man auch beobachten, wenn man mit zwei Patienten über Arzneimittel spricht. Beide haben die gleiche Information, aber jeder nimmt etwas anderes „für wahr“. Für den einen ist das Arzneimittel in erster Linie ein hilfreiches Instrument zur Behandlung seiner Erkrankung, während der andere vor allem die Risiken im Blick hat. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir die Position des Schiedsrichters einnehmen würden. Stattdessen wollen wir Recht behalten und suchen vor allem nach Informationen, die uns in unserer Grundauffassung bestätigen. Was unser Weltbild ins Wanken bringt, ignorieren wir.
Wenn Sie Zweifel an dem Arzneimittel haben, das Ihnen Ihr Arzt verschrieben hat, handeln Sie nicht nach dem Motto „Meine Meinung steht fest“, sondern sprechen Sie Ihren Arzt an.

Ritas Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, wie die zu starke Verankerung von Überzeugungen zu einer Entscheidung führen kann, die das Erreichen von gesundheitlichen Zielen verhindert. Wenn man genauer hinschaut, ist es eher die Geschichte von Erwin, Ritas Ehemann.

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Erwins Entscheidung
Erwins Ehefrau Rita, 36 Jahre alt, wurde wegen Angststörungen und Panikattacken in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort wurde sie auf das Medikament Tavor eingestellt. Als Erwin sie zum ersten Mal besuchte, erzählt sie ihm, dass ihre Panikattacken unter dem Medikament nachgelassen haben. Am nächsten Tag kam Erwin wieder und bat sie dringend, das Medikament nicht weiter einzunehmen. Rita folgte der Empfehlung ihres Ehemannes, ließ ihre Ärzte jedoch in dem Glauben, dass sie Tavor weiterhin nimmt. Rita war insgesamt 3 Monate in der Klinik, viel länger als die meisten anderen Patienten.
In der Klinik sah Erwin das Poster „Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen.“ und rief mich an. Es war die erste Reaktion überhaupt, die ich auf meine Poster erhielt. Sie unterschied sich zum Glück völlig von den späteren Reaktionen, denn Erwin lies kein gutes Haar an mir und meiner Idee. Dennoch war Erwin zu einem Treffen bereit. Auch Rita war dabei.

Erwins Geschichte*
Nachdem mir meine Frau sagte, die Ärzte der Klinik hätten ihr Tavor gegeben, gingen bei mir sämtliche Alarmglocken an. Ich bin sofort nach Hause und habe recherchiert. Meine Vermutung hat sich schnell bestätigt, Tavor ist Teufelszeug. Wie können Ärzte ihren Patienten so etwas antun. Nach allem, was meine Frau durchgemacht hat, konnte ich nicht zulassen, dass sie nun auch noch von Medikamenten abhängig gemacht wird*.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschicht eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Tavor zählt den sogenannten Benzodiazepinen. Benzodiazepine sind die Mittel der Wahl zur kurzdauernde Behandlung für die von Angstzuständen und Panikattacken. Bei länger er Anwendung besteht ein erhöhtes Suchtrisiko. Ritas Ärzte haben das Medikament nach 14 Tagen Schritt für Schritt abgesetzt.
Die Analyse von Erwins Entscheidung.

Zu Beginn eines Interviews mit einem Patienten, das die Grundlage für eine Analyse seiner Entscheidung ist, bitte ich ihn in der Regel, sich auf dieser Karte zu positionieren. Ohne zu zögern trug Erwin seinen Namen in Feld 1 und übernahm die Aufgabe für Rita gleich mit. Hintergrund dieser Aktion ist die Erfahrung, dass die Grundeinstellung eines Menschen einen großen Einfluss auf sein Urteil und seine Entscheidung ist.
Das wissen wir aus der Erforschung der Risikowahrnehmung. Die Ergebnisse zeigen, das Menschen dazu neigen, Risiken nicht objektiv zu bewerten, sondern das Emotionen die Bewertung von Risiken stark verzerren. Das gilt besonders für Arzneimittel. Eine Befragung des Marktforschungsinstituts Statista consumer insigts hat z. B. gezeigt, dass mehr als 40% der Deutschen „versuchen, die Einnahme von Arzneimitteln immer zu vermeiden“. Mehr über die Risikowahrnehmung von Arzneimitteln und die Ergebnisse der Befragung finden Sie hier ->.
Entsprechend Ritas Positionierung auf der Karte, klang ihre Geschichte ganz anders:

Ich litt unter schweren Panikattacken. Die Ärzte gaben mir Tavor, und es ging mir schnell besser. Mein Mann war außer sich, nachdem er Tavor googelte und bat mich dringend, das Medikament nicht weiter einzunehmen. Ich habe Tavor natürlich auch gegoogelt. Klar, Tavor hat ein hohes Abhängigkeitspotenzial, wenn man fahrlässig damit umgeht. Aber man muss doch auch sehen, welche Wirkung das Medikament hat. Mir ging es schon drei Tage, nachdem ich mit der Therapie begonnen habe, wesentlich besser. Aber das ließ mein Mann nicht gelten. Er meinte, Tavor sei Teufelszeug und Ärzte seien nichts als Handlanger der Pharmaindustrie. Letztendlich habe ich nachgegeben und Tavor nicht mehr eingenommen. Meine Panikattacken nahmen wieder zu und wurden wieder schlimmer. Die Ärzte erhöhten daraufhin die Dosis. Sie wussten ja nicht, dass ich das Medikament im Klo entsorgte. Nach einer Woche setzten sie Tavor ab.
Die entscheidende Frage bei der Analyse der Entscheidung ist, warum Rita und Erwin bei ihren Recherchen zu völlig unterschiedlichen Urteilen kamen. Die Entscheidungswissenschaften geben darauf eine einfache Antwort. Der Grund dafür ist die Selbstbestätigungsfalle. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Verankerung von Überzeugungen. Die Selbstbestätigungsfalle ist ein Phänomen, dass zur Gruppe der systematischen Fehler beim Wahrnehmen, Urteilen und Erinnern gehört. Innerhalb dieser Gruppe gehört sie zur Kategorie „kognitive Leichtigkeit“. Mehr dazu erfahren Sie hier ->.
Die Karte rechts ist ein Element das Kartensatzes „Gute Karten für bessere Patientenentscheidungen“. Jede Karte beschreibt einen systematischen Fehler beim Wahrnehmen, Urteilen und Erinnern. Auf der Rückseite jeder Karte befindet sich ein Tipp, wie man ihn erkennen und wie man verhindern kann, dass er zu falschen Urteilen und Entscheidungen führt. Sie finden den Kartensatz im Onlineshop.

Wir tappen in diese Falle vor allem, wenn Emotionen im Spiel sind. In solchen Fällen wollen wir einfach recht behalten und auf unserem Standpunkt bleiben, auch wenn die Fakten dagegen sprechen. Der Schritt in die Falle begann bei Erwin schon mit der Fragestellung. Anders als Rita, die einfach den Suchbegriff „Tavor“ in Google eingab, hat Erwin nach „Tavor Risiken“ gegoogelt.
Wenn man nur Tavor als Suchbegriff eingibt, bekommt man relativ neutrale Informationen, wobei der Hinweis auf das Suchtpotenzial durchaus prominent erscheint. Ganz anders ist das Ergebnis, wenn man nach Tavor in Verbindung mit dem Begriff „Risiken“ sucht. So fand Erwin aufgrund seiner negativen Grundeinstellung gegenüber Arzneimitteln genügend Argumente, um seiner Frau gegenüber entsprechend auftreten zu können.

„Das ist Beihilfe zur Sucht.“
„Das ist Beihilfe zur Sucht“ war die Überschrift eines Artikels im „Spiegel“ über Tavor aus dem Jahr 2009. Der Artikel startet mit der Beschreibung einer Situation, in der eine Ärztin einem Studenten eine Großpackung Tavor zur Linderung seiner Prüfungsstresssymptome verordnet, nicht ohne den Warnhinweis, „Tavor könne Leben zerstören“. Der Artikel beschreibt, wie der Student in die Sucht hineinglitt und letztendlich ohne fremde Hilfe nicht mehr lebensfähig war. Ein anderer Artikel des gleichen Magazins bejubelte Tavor Jahre zuvor mit der Schlagzeile „Tavor entzieht der Angst den Boden“. Anfangs von der Presse hochgelobt, setzen sich seit Ende der 90er Jahre die meisten Berichte äußerst kritisch mit dem Medikament auseinander. Der jüngste Artikel, man dazu in der großen Publikumspresse finden kann, wurde vom „Stern“ im Jahr 2017 veröffentlicht („Pille Palle – warum Beruhigungsmittel gefährlicher sind als Heroin“).
Zusammenfassung
Rita litt an einer schweren Depression mit starken Panikattacken. Ihre Panikattacken wurden in einer psychiatrischen Klinik mit Tavor behandelt. Erwin, ihr Ehemann, wirkte massiv auf Rita ein. Sie sollte Tavor sofort absetzen. Der Fall zeigt, wie die Selbstbestätigungsfalle wirkt. Erwin und Rita haben zwei völlig unterschiedliche Grundeinstellung gegenüber Arzneimitteln. Erwin suchte nicht nach Informationen über Tavor, die es ihm ermöglichten, das Arzneimittel objektiv zu bewerten. Informationen, die für das Arzneimittel sprachen, ignorierte er oder bewertete sie als Manipulation der Pharmaindustrie. Stattdessen suchte er nach Informationen, die sein Vorurteil bestätigten, ohne diese Informationen kritisch zu hinterfragen oder nach der Zuverlässigkeit der Quelle zu suchen. Ritas Fall hat noch eine zweite Komponente. Sie verschwieg ihren Ärzten, dass sie Tavor abgesetzt hat. Das führte zu einer falschen Bewertung der Therapie, verlängerte unnötig ihren Aufenthalt in der Klinik und kostete die Krankenkasse – und damit uns alle – am Ende mehr Geld. Mehr über das Problem der „verdeckten-intentionalen Non-Adhärenz“ finden Sie hier ->.
Quellen:
[1] Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: „Risk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationality“, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis
[2] Jackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36
[3] Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95
[4] Gurwitz JH, Glynn RJ, Monane M, Everitt DE, Gilden D, Smith N, Avorn J. Treatment for glaucoma: adherence by the elderly. Am J Public Health. 1993 May;83(5):711-6. doi: 10.2105/ajph.83.5.711. PMID: 8484454; PMCID: PMC1694682.