Bei Risiken und Nebenwirkungen? Vermeiden Sie voreilige Entscheidungen!
Ein Motiv der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Der Text unter dem Motiv:
420 von 1.000 befragten Deutschen im Alter zwischen 18 und 80 Jahren versuchen „Arzneimittel immer zu vermeiden“ (Quelle Statista Consumer Insights 2023). Nur in Frankreich sind es mehr (45%); in den USA oder Großbritannien liegt der Anteil bei 28%.
Diese skeptische Grundhaltung gegenüber Arzneimitteln zeigt sich auch daran, dass zahlreiche Patienten die Arzneimittel, die Ärzte ihnen verschreiben, nicht konsequent oder gar nicht einnehmen. Das hat nicht nur Folgen für die betroffenen Patienten, sondern auch für die Gesellschaft. Bei den betroffenen Patienten führt das Problem z. B. zu vermehrten Komplikationen und Krankenhauseinweisungen oder zu einer längeren Krankheitsdauer. Für die Gesellschaft bedeutet das jährlich Kosten in Milliardenhöhe, die wir alle mit unseren Krankenkassenbeiträgen finanzieren.
Einer der Gründe für die skeptische Haltung gegenüber Arzneimitteln mag daran liegen, dass Sie in den sozialen Medien viele Stimmen hören, die mit den unterschiedlichsten Argumenten gegen Arzneimittel wettern. Aber sind die Rückschlüsse richtig, die Sie daraus für Ihr eigenes Verhalten ziehen? Wenn Sie Zweifel an einem Arzneimittel haben, das Ihnen verschrieben wurde oder Probleme mit der Einnahme, treffen Sie keine voreilige Entscheidungen sondern sprechen Sie Ihren Arzt an.

Silvias Geschichte ist ein typisches Beispiel für eine voreilige Entscheidung. Lesen Sie, warum Silvia die Entscheidung getroffen und wie sie ihre Entscheidung ein Jahr später bewertet hat.
Anmerkung: Silvia wollte anonym bleiben. Deshalb haben wir Name und Foto geändert.
Autor: Peter Jungblut

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Silvias Entscheidung
Silvia hatte schon seit Monaten Schmerzen in den Gelenken. Ihr Arzt stellte eine „rheumatoide Arthritis“ fest und verschrieb ihr Kortison und Methotrexat, ein Medikament aus der Gruppe der Immunmodulatoren. Die rheumatoide Arthritis ist die häufigste entzündliche Gelenkerkrankung. Bei dieser Erkrankung ist das körpereigene Abwehrsystem (Immunsystem) überaktiviert. Das führt dazu, dass eigene Körperzellen angegriffen werden. Dadurch kommt es zu ständigen Entzündungen im Körper. Methotrexat wirkt dem entgegen und „moduliert“ (dämpft) das Immunsystem.
Wie von ihrem Arzt empfohlen, setzte Silvia das Kortison nach 6 Monaten wieder ab. Weitere zwei Monate später entschied sie sich für eine Methode, die ihr versprach, ihre Erkrankung innerhalb weniger Monate zu besiegen – ohne Medikamente. Methotrexat nahm sie ab sofort auf Empfehlung des „Experten“, der ihr die Methode verkaufte, nicht mehr ein. Ihren Arzt, den sie weiterhin regelmäßig konsultierte, informierte sie darüber nicht. Ein Jahr später wertete sie ihre Entscheidung als Fehler, denn ihre Schmerzen waren stärker als je zuvor. Sie sah das oben abgebildete Poster in der Praxis ihres Arztes und rief mich an, um andere Betroffene vor einer ähnlichen Entscheidung zu bewahren.

Silvias Geschichte*
Haben Sie schon mal den Beipackzettel von Kortison gelesen? Ich habe das getan! Sie können mir glauben, ich habe mich sehr schwer damit getan, das Medikament zu nehmen. Aber die Schmerzen waren so stark, dass ich keine Wahl hatte. Dann sollte auch noch dieses Methotrexat hinzukommen. Gut, mein Arzt reduzierte das Kortison und meinte, ich könne bald ganz darauf verzichten, wenn ich Methotrexat nehme. Als ich den Beipackzettel von Methotrexat las, war mein erster Gedanke „Dieses Medikament will ich nicht nehmen, schon gar nicht über Jahre! Das Risiko ist mir einfach zu groß“.
Also habe ich nach Alternativen gesucht. Dabei bin ich auf diese Methode gestoßen (den Namen will ich hier nicht nennen), die mir eine Heilung ohne Medikamente versprach. Mein Arzt riet dringend ab. Aber es klang alles so plausibel! Ich war davon überzeugt, dass ich meine Erkrankung in den Griff bekomme.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschichte eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Wie sieht die Risikowahrnehmung bei Arzneimitteln aus?
Der amerikanische Psychologe Paul Slovic gilt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. In einer seiner wichtigsten Studien bat er Probanden, ihre emotionale Grundeinstellung zu risikobehafteten Themen zu äußern, etwa zu den Themen „Konservierungsmittel in Lebensmitteln“ oder „die Arbeit von Chemiefabriken“. Menschen, die eine negative Grundeinstellung zu einer Technologie hatten, listeten mehr Risiko- als Nutzenaspekte auf, und umgekehrt [1].
Im zweiten Teil wurden die risikobehafteten Themen von den Versuchsleitern mit Kommentaren versehen. Das Ergebnis: Eine starke Betonung der Risiken führte dazu, dass die Teilnehmenden die Risiken noch höher einschätzten und den Nutzen noch geringer bewerteten (Waage rechts).
Spätestens seit Slovics Veröffentlichungen wissen wir, dass Menschen die Chancen und Risiken von Technologien nicht objektiv einschätzen.

Meine Gespräche mit Patienten haben immer wieder gezeigt: Je negativer die Grundeinstellung eines Patienten Arzneimitteln gegenüber ist, umso größer schätzt er die Risiken des Arzneimittels ein und umso geringer erscheint ihm das Risiko, das Arzneimittel nicht einzunehmen.

Analysen des Verhaltens von Verbrauchern zeigen, dass sich die Erkenntnisse aus Slovics Studie auch in der Gesellschaft widerspiegeln. Die Grafik unten zeigt exemplarisch an einem konkreten Beispiel das Ergebnis solcher Analysen: Ein erheblicher Anteil der Mitteleuropäer ist Arzneimitteln gegenüber grundsätzlich skeptisch gegenüber eingestellt. Sie versuchen immer die Einnahme von Medikamenten zu vermeiden. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob in den Gesellschaften, wo die Menschen besonders kritisch gegenüber Arzneimitteln sind, die Betonung der Risiken von Arzneimitteln lauter und stärker ist als die Betonung des Nutzens. Zumindest in Deutschland werden die Verbraucher nur bei Zigaretten mehr auf das Thema „Risiko“ konditioniert als bei Arzneimitteln. Jede Arzneimittelwerbung endet mit dem Spruch „Zu Risiken und Nebenwirkungen …“. Menschen mit hohem Radio- oder Fernsehkonsum hören diesen Satz x-mal am Tag.

In der Grafik werden die Begriffe „Adhärenz“, bzw. „Non-Adhärenz“ verwendet. Adhärenz beschreibt, in welchem Umfang ein Patient die mit dem Arzt vereinbarten Therapiemaßnahmen umsetzt. Die genaue Definition laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) lautet: Das Ausmaß, in dem das Verhalten einer Person Medikamente einzunehmen, eine Diät einzuhalten und/oder Änderungen des Lebensstils durchzuführen, mit den vom Patienten akzeptierten Empfehlungen des Gesundheitsdienstleisters übereinstimmt.
Sicherlich ändert sich die Einstellung eines Befragten, wenn er zum Patienten wird. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass diese negative Grundhaltung gegenüber Arzneimitteln auch dazu beiträgt, dass Menschen die vom Arzt verschriebenen Arzneimittel nicht einnehmen oder eigenmächtig wieder absetzen. Es gibt allerdings keine verlässlichen Daten über die Adhärenzquoten in den einzelnen Ländern, insofern ist diese Vermutung reine Spekulation.
Das Problem zieht sich quer durch alle Krankheitsbilder, unabhängig von Schweregrad der Erkrankung. Für Herzinfarktpatienten konnte z. B. gezeigt werden, dass innerhalb von bis zu vier Monaten nach dem Infarkt nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten ihr Rezept einlösen, mit rückläufiger Tendenz im weiteren Zeitverlauf [2]. Ähnliche Beobachtungen gibt es bei der Herzinsuffizienz. Unter Patienten, die zumindest zwei Rezepte nach der Erstverschreibung eingelöst haben, sind nach einem Jahr nur noch zwei Drittel in der Therapie; nach zwei Jahren ist es nur noch ein Drittel [3]. Für Glaukompatienten (die Erkrankung kann zum Verlust der Sehkraft führen, wenn sie unbehandelt bleibt) konnte gezeigt werden, dass viele Patienten ihre Augentropfen jeweils nur kurz vor dem Arzttermin einnehmen. Die Non-Adhärenzquote (die Quote der Patienten, die das Arzneimittel nicht oder nicht regelmäßig einnehmen) bei dieser Studie lag bei 30,3% [4]
Quellen:
[1] Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. MacGregor, D.: „Risk as analysis and risk as feelings: some thoughts about affect, reason, risk, and rationality“, Risk analysis: An official publication of the Society for Risk Analysis
[2] Jackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36
[3] Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95
[4] Gurwitz JH, Glynn RJ, Monane M, Everitt DE, Gilden D, Smith N, Avorn J. Treatment for glaucoma: adherence by the elderly. Am J Public Health. 1993 May;83(5):711-6. doi: 10.2105/ajph.83.5.711. PMID: 8484454; PMCID: PMC1694682.
Das Problem der verdeckten Non-Adhärenz.
Es gibt zwei Hauptgründe, warum Patienten das vom Arzt verschriebene Arzneimittel nicht einnehmen oder absetzen. Der eine ist, sie haben Schwierigkeiten mit der Einnahme, wie es z. B. bei Augentropfen vorkommen kann. Oder sie vergessen das Arzneimittel immer wieder. In solchen Fällen spricht man von der „nicht-intentionalen Non-Adhärenz“ (der Patient entscheidet sich nicht grundsätzlich gegen das Arzneimittel).
Silvias Fall repräsentiert den anderen Hauptgrund: Die Patienten treffen die Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen, weil sie der Überzeugung sind, dass es ihnen nicht hilft oder gar schadet (intentionale Nonadhärenz).
Neben den Merkmalen „intentional“ und „nicht-intentional“ gibt es noch ein weiteres wichtiges Kriterium. Silvia hat ihren Arzt in dem Glauben gelassen, sie würde Methotrexat weiterhin einnehmen. Experten sprechen in solchen Fällen von der „verdeckten intentionalen Non-Adhärenz“. Die Abbildung zeigt drei Szenarien, wie sich Patienten mit Problemen bei der Einnahme von Arzneimitteln verhalten können.
Problematisch ist vor allem, wenn Patienten ihr Problem verschweigen oder ihren Arzt sogar täuschen, wie es bei Silvia der Fall war. Die Konsequenz ist, dass Ärzte die Therapie falsch beurteilen, falsche Rückschlüssen ziehen und letztendlich dem Patienten nicht helfen können. Oft geht dabei wertvolle Zeit verloren, und die Therapie wird am Ende teurer. Die Patienten vergeben die Chance, dass ihr Arzt ihnen eine Lösung des Problems anbieten kann.

Die Analyse von Silvias Entscheidung.
Silvias Hauptargument, Methotrexat abzusetzen: „Das Risiko ist mir einfach zu groß“. Silvia ließ bei unserem Treffen keinen Zweifel daran, dass für sie auch die Anwendung von Arzneimitteln ein risikobehaftetes Thema ist. Sie ist damit nicht alleine. Ich habe Silvia bei unserem Treffen gefragt, wie sie die Entscheidung gegen das Arzneimittel und für die alternative Methode getroffen hat. Ihre Antwort:

Ich hatte eine Menge Informationen zusammengetragen und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Medikament mit dieser Liste an Nebenwirkungen keine Langzeitschäden verursacht. Die Alternative klang so plausibel und angesichts meiner Bedenken gegen Methotrexat absolut verlockend. Es war am Ende eine Bauchentscheidung.
Auf das Thema „Bauchentscheidung“ gehe ich im Zusammenhang mit Susannes Entscheidung ausführlich ein. Daher an dieser Stelle nur so viel:
Entscheidungen basieren auf Informationen. Die Gesamtheit der Informationen, die für eine Entscheidung relevant sind, werden durch die Puzzleteile repräsentiert (siehe Abbildung). Das Puzzle ist aber nicht vollständig. Es fehlen Puzzleteile. Man kann die fehlenden Teile in 3 Kategorien einteilen:
- Informationen zu denen wir keinen Zugang haben,
- Informationen, die wir nicht beschaffen können oder wollen,
- Informationen, von denen wir gar nicht wissen, dass es sie gibt.
Aber selbst von den Informationen, die wir haben, berücksichtigen wir nicht alle bei unserer Entscheidung. Die Entscheidungsforschung nennt dafür zwei Hauptgründe. Der eine ist, dass die Anzahl der Informationen, die unser Gehirn verarbeiten kann, begrenzt ist. Der andere Grund ist, dass wir dazu neigen, Informationen bewusst zu ignorieren, die im Widerspruch zu unseren Grundüberzeugungen stehen.

Informationslücken und mangelnde kognitive Ressourcen, alle verfügbaren Informationen bei der Entscheidung zu berücksichtigen, sind also Rahmenbedingungen beim Treffen einer Entscheidung. Deshalb hat unser Gefühl oft einen starken Einfluss. Es ersetzt Wissen und das Denken.
Zu den bekanntesten Psychologen im deutschsprachigen Raum, die sich mit der Frage beschäftigt haben, was Bauchentscheidungen sind, gehören Gerd Gigerenzer und Wolfgang Gaissmaier. Bei ihnen kann man dazu folgendes lesen [1]:

Wir verwenden den Begriff Intuition für Urteile, die schnell sind, deren Mechanismen eventuell bewusstseinsfähig, keineswegs aber bewusstseinspflichtig sind, und die dennoch stark genug sind, um zu handeln. Unseres Erachtens lassen sich Intuitionen mit schnellen und einfachen Heuristiken beschreiben.
Der Begriff „Heuristik“ kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie „ich meine“. Heuristiken sind eine Art Daumenregel des Gehirns für Entscheidungen. Sie entstehen im Laufe unseres Lebens und speisen sich aus gelernten Erfahrungen. Heuristiken helfen uns, im Alltag bei lückenhafter Informationslage in kurzer Zeit hinreichend gute Entscheidungen zu treffen.
Die entscheidende Frage ist, ob und unter welchen Voraussetzungen man sich auf sein Bauchgefühl verlassen kann. Die Entscheidungsforschung gibt Antworten darauf. Die wichtigste sollte jeder Patient kennen: Das Bauchgefühl ist kein Kompass, der einem Menschen in allen Lebenslagen den Weg zur richtigen Entscheidung zeigen kann. Der Kompass funktioniert auf unterschiedlichen Erfahrungsfeldern des Lebens unterschiedlich zuverlässig. Ein erfahrener Arzt kann sich z. B. auf sein Bauchgefühl verlassen, wenn er eine Diagnose stellt. Er hat in seinem Leben viele Patienten mit dieser Erkrankung gesehen (das ist sein „Alltag“). Er kann sich aber nicht unbedingt beim Kauf von Aktien auf sein Bauchgefühl verlassen.
Daraus folgt: Patienten sollten die Entscheidung, wie eine Erkrankung am besten zu behandeln ist, nicht ihrem Bauchgefühl überlassen. Ihr Gefühl basiert nicht auf Erfahrungen, sondern aus dem, wie sie gelesen oder gehört haben. Sie gehen dem Denkfehler auf den Leim, den die Entscheidungsforschung als „emotionale Beweisführung“ bezeichnet. Eine Entscheidung fühlt sich gut an, also ist sie richtig oder sie fühlt sich schlecht an, also ist sie falsch.
Quelle:
[1] Gigerenzer Gerd, Gaissmaier Wokfgang:“Wie funktioniert Intuition?” in: Evolutionäre Sozialpsychologie und automatische Prozesse (pp.31–49), Publisher: Lengerich: PabstEditors: Erich H. Witte, 2006
Bauchentscheidungen sind also neuronale Daumenregeln, die sich durch Regeln beschreiben lassen. Die Entscheidungsforschung hat inzwischen eine Vielzahl dieser Heuristiken entdeckt, benannt und ausgiebig erforscht.
Vieles spricht dafür, dass die sogenannte Simulationsheuristik bei Silvias Entscheidung eine große Rolle gespielt hat.
Wie erwähnt, sind Heuristiken wertvolle Helfer, um im Alltag hinreichend gute Entscheidungen zu treffen. Jenseits unseres Alltags können sie uns leicht auf den Holzweg führen. Die Heuristik wird zur Entscheidungsfalle. Bei Silvias Entscheidung liegt die Falle darin, dass ihre Vorstellungskraft überhaupt nichts darüber aussagt, welcher Weg der richtige ist.

Abschließend will ich noch auf ein weiteres Phänomen eingehen, das Patienten häufig zu falschen Entscheidungen führt. Die „optimistische Verzerrung“ war auch bei Silvias Entscheidung, das Arzneimittel abzusetzen und den Weg der alternativen Methode zu gehen, im Spiel. Die optimistische Verzerrung gehört zu einer Gruppe von gut erforschten systematischen Fehlern beim Erinnern, Wahrnehmen und Entscheiden (Urteilsfehler). Sie lässt sich der Kategorie „falsche Selbsteinschätzung“ zuordnen. Mehr über Urteilsfehler finden Sie im Zusammenhang mit Renates Entscheidung.
Wir begegnen diesem Phänomen in nahezu allen Lebensbereichen. So überschätzen etwa 80% der Menschen ihre Lebenserwartung, ihre Einkommensentwicklung, die Dauer ihrer Ehe und noch vieles mehr, gemessen an den statistischen Wahrscheinlichkeiten. Gleichzeitig unterschätzen sie ihr Risiko, krank, arbeitslos etc. zu werden.

Folgt man der Neurowissenschaftlerin Tali Sharot, scheint der Hang zur optimistischen Verzerrung angeboren zu sein und ein Leben lang zu halten, auch wenn die Lebenserfahrung dagegenspricht. Dazu passt auch die Erkenntnis, dass Menschen ihre Prognosen nur bedingt anpassen. Wer sein Krebsrisiko überschätzt hat, korrigiert es nach unten, wenn man ihm die Statistik zeigt. Wer es unterschätzt hat, bleibt eher bei seiner Einschätzung [1].
Der Grat zwischen Optimismus und Optimistischer Verzerrung ist schmal. Optimismus ist eine starke Kraft in unserem Leben, die uns viele Türen öffnet. Einer der wichtigsten Vorteile einer optimistischen Grundeinstellung ist, dass Optimismus Beharrlichkeit fördert. Wenn der Optimismus im Hinblick auf die Erreichung eines Ziels allerdings auf einer verzerrten Wahrnehmung, bzw. auf einem Urteilsfehler basiert, dann wird manche der positiven Eigenschaften, die ein Optimist mitbringt, zum Glatteis. Insbesondere die Beharrlichkeit kann unter Umständen sehr kostspielig werden.
Gestützt wird diese These z. B. durch eine Studie des Ökonomen Thomas Åstebro [2]. Er hat die Daten einer kanadischen Organisation ausgewertet, die die Chancen von Erfindungen beurteilt. Beurteilungen, die unmissverständlich ein Scheitern der Idee prognostizieren, bringen etwa die Hälfte der Erfinder zum Aufgeben ihrer Idee. Die andere Hälfte macht beharrlich weiter und verdoppelt am Ende ihre anfänglichen Verluste. Im Studienzeitraum wurden nur 5 von 411 dieser sehr negativ beurteilten Projekte kommerzialisiert, und keines davon war erfolgreich.
Wenn ich Patienten, die die Entscheidung getroffen haben, das vom Arzt verschriebene Medikament nicht einzunehmen, mit der Aussage konfrontiere, dass solche Entscheidungen nachgewiesenermaßen das Risiko von Komplikationen und Krankenhauseinweisungen vergrößert, vertreten die meisten zwar die Meinung, das könne schon sein, bei sich selbst jedoch erwarten sie solche Konsequenzen nicht.
Quellen:
[1] Sharot, T., Riccardi, A., Raio, C., Phelps, E.: „Neural mechanisms mediating optimism bias.“, Nature
[2] Thomas Åstebro, „The Return to Independent Invention: Evidence of Unrealistic Optimism, Risk Seeking or Skewness Loving?“, Economic Journal 113 (2003): S. 226 – 239.
Zusammenfassung
Silvia leidet an einer rheumatoiden Arthritis. Ihr Arzt verschrieb ihr Kortison und das Medikament Methotrexat. Das Kortison setzte sie nach 6 Monaten auf Empfehlung ihres Arztes wieder ab. Kurz danach entschied sie sich für eine Methode, die ihr Heilung innerhalb von kurzer Zeit ohne Medikamente versprach und setzte auch Methotrexat ab (ohne ihren Arzt zu informieren). Ein Jahr später waren ihre Schmerzen stärker denn je. Sie wertete die Entscheidung als falsch.
Silvia verließ sich bei ihrer Entscheidung auf ihr Bauchgefühl und wählte eine Methode, die sich ein Jahr später als Irrweg herausstellte. Das Bauchgefühl ist bei Entscheidungen dieser Art kein guter Ratgeber, denn die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, wenn man sich auf sein Bauchgefühl verlassen will, waren in Silvias Fall nicht gegeben.
Silvias Entscheidung muss vor dem Hintergrund ihrer negativen Grundeinstellung gegenüber Arzneimitteln betrachtet werden. Menschen mit negativer Grundeinstellung zu einem Thema neigen dazu die Risiken zu hoch und den Nutzen zu gering einzuschätzen.
Eine weitere falsche Entscheidung war, dass Silvia ihren Arzt in dem Glauben gelassen hat, sie nehme Methotrexat weiterhin ein.
Welche Empfehlung lässt sich aus Silvias Fall ableiten? Dazu möchte ich den Münchner Rheumatologen Prof. Dr. Klaus Krüger zitieren:

Gerade bei MTX (Methotrexat ) haben viele große Angst vor Nebenwirkungen und entwickeln teilweise einen starken Widerwillen …
… Dabei sind schwere Nebenwirkungen bei MTX gar nicht so häufig. Trotzdem haben viele das Gefühl, dass dieses Medikament sehr gefährlich ist und ihnen auf Dauer sicher schadet. Ist der Widerwille beim Patienten zu groß, kann der Arzt gemeinsam mit dem Betroffenen eine andere Lösung finden – zum Beispiel eine Biologika-Therapie mit einer geringeren MTX-Dosis zu beginnen. Eigentlich gibt es immer Alternativen – man muss sie nur mit seinem Arzt besprechen.