Bringen Sie Herz und Hirn bei Ihren Entscheidungen in Einklang.
Ein Poster der Serie „Starke Impulse für gute Patientenentscheidungen“.
Der Text unter dem Motiv:
Über Ludwig van Beethoven sagt man, zu seinen Stärken gehöre das freie Improvisieren auf dem Klavier. Er wäre aber vermutlich nicht in der Liga der überragenden Komponisten der Musikgeschichte, wenn er nicht auch das Handwerk des Komponierens perfekt beherrscht hätte. Herz und Hirn waren bei seinen Kompositionen auf höchstem Niveau im Einklang.
Eine gute Entscheidung ist vergleichbar mit einer guten Komposition. Wenn ein Patient z. B. die Entscheidung trifft, die mit dem Arzt abgestimmte Therapie nicht konsequent oder gar nicht umzusetzen, mag sie für ihn selbst gut klingen. Er kann sie mit vermeintlich guten Argumenten sich selbst gegenüber rechtfertigen. Aber wenn ein Außenstehender sie analysiert, zeigt sich oftmals, dass die Entscheidung „handwerklich“ schlecht gemacht ist.

Dieses Poster hat Karla in der Praxis eines Augenarztes gesehen. Sie war unsicher, ob sie die Augentropfen, die ihr der Arzt verschreiben wollte, tatsächlich nehmen sollte oder nicht. Karla wollte wissen, wie sie Ihre Entscheidung „komponieren“ kann.
Anmerkung: Karla wollte anonym bleiben, deshalb haben wir Name und Foto geändert.
Autor: Peter Jungblut

Wenn Sie Ihre Entscheidung analysieren lassen wollen, schicken mir gerne gerne eine E-Mail. Ich nehme Kontakt mit Ihnen auf.
Karlas Entscheidung
Karla ist 62 Jahre alt. Ihr Augenarzt hat kürzlich ein Glaukom diagnostiziert. Ein Glaukom ist eine Erkrankung des Auges, die durch einen erhöhten Augeninnendruck geprägt ist. Der Arzt hat Karla Augentropfen verschrieben, die den Druck senken.
Karla gehört zu den Menschen, die Arzneimitteln sehr kritisch gegenüber stehen und ein Medikament nur dann einnehmen, wenn es unvermeidbar ist. Dieser Anteil ist in Mitteleuropa besonders hoch. Ihr Arzt meinte, in diesem Fall sei es unvermeidbar, weil sonst der Verlust der Sehkraft drohe.
Karla las den Beipackzettel und informierte sich im Internet. Sie las auch Berichte von Glaukompatienten, die seit Jahren ein Glaukom haben und bei denen die Sehkraft nicht nachgelassen hatte, obwohl sie keine Medikamente genommen haben.


Karlas Geschichte*
Ich habe mich intensiv mit der Erkrankung und den Therapiemöglichkeiten beschäftigt. Mein Kopf sagt mir, dass ich die Augentropfen nehmen soll. Millionen Menschen weltweit tun es. Aber mein Bauch sagt eher nein. Ich habe meinem Arzt gesagt, wie ich über Arzneimittel denke. Er meinte dazu, dass das Prostaglandin, dass er mir verschreiben will, das Glaukom-Medikament mit dem geringsten Risiko ist. Aber meinen Bauch hat das nicht überzeugt.
Als ich das Poster gesehen habe, dachte ich sofort, genau das brauche ich, eine gute Komposition meiner Entscheidung. Wie bekomme ich Herz und Hirn in Einklang? Wem folge ich? Dem, was mir mein Verstand sagt oder meinem Bauchgefühl?*.
* Mit dem Begriff „Geschichte“ fasse ich zusammen, wie ein Interviewpartner seine Entscheidung begründet. Warum das für die Analyse der Entscheidung wichtig ist, wie die Geschichte entsteht und wie aus einer Geschichte eine Entscheidung wird, erfahren Sie hier ->.
Wenn der Kopf Ja, der Bauch aber Nein sagt.
In seinem Buch „Descartes’ Irrtum“ beschreibt der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio einen Patienten, der unfähig war, auch einfachste Entscheidungen zu treffen. Über Elliot, so der Name des Patienten, kann man lesen, dass er z. B. stundenlang am Autoradio hing, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Das Besondere an Elliot war, dass ihm wegen eines Gehirntumors ein Teil des präfrontalen Cortex entfernt wurde. Das änderte zwar nichts an seiner Fähigkeit, zu denken, und auch sein IQ war nach der Operation unverändert im Normbereich. Was die Operation allerdings bewirkte, war die Blockade seiner Fähigkeit, Emotionen zu empfinden. Damásios These war, dass Elliots Gefühllosigkeit ihn daran hinderte, verschiedenen Handlungsalternativen emotionale Werte beizumessen. Elliot konnte sich nicht mehr entscheiden, weil sich alles gleich anfühlte.
Damásios Entdeckung führte in der Wissenschaft zu einem Umdenken hinsichtlich der Bedeutung des Gefühls für das Treffen von Entscheidungen: Ohne Gefühl ist der Verstand offenbar hilflos. Daraus kann man allerdings nicht den Schluss ziehen, dass man „aus dem Bauch heraus“ zwangsläufig bessere Entscheidungen trifft.
Ich habe Karla die Geschichte von Elliot erzählt und ihr gesagt, dass Entscheidungswissenschaftler bestimmte Voraussetzungen formuliert haben, die erfüllt sein sollten, wenn man sich auf sein Bauchgefühl verlassen will. Ich habe sie im Zusammenhang mit Susannes Entscheidung bereits ausgiebig vorgestellt und will die zwei wichtigsten an dieser Stelle kurz wiederholen. Einer der Faktoren ist Erfahrung. Ein Schachspieler z. B. kann sich dann auf sein Bauchgefühl verlassen, wenn er in vielen Partien gelernt hat, welche Konsequenzen seine Entscheidungen haben. Darin zeigt sich der zweite wichtige Faktor: Das direkte Feedback auf eine Entscheidung.

Erfüllen Patienten diese Voraussetzungen, wenn es um die Entscheidung geht, ein Medikament einzunehmen oder nicht? Ein Asthmapatient kann sich bei der Entscheidung, ob er sein Asthmaspray vorbeugend nehmen soll, durchaus auf sein Bauchgefühl verlassen. Denn er hat das direkte Feedback seiner Entscheidungen (nehmen oder nicht nehmen) aus vielen ähnlichen Situationen. Ein Glaukompatient hat dieses direkte Feedback nicht. Denn das Weglassen der Tropfen hat keine unmittelbaren Auswirkungen. Ganz abgesehen davon, hat Karla bisher überhaupt keine Erfahrungen als Glaukompatientin.
Insofern ist das Bauchgefühl in Karlas Fall kein guter Ratgeber. Dennoch ist es da und warnt dominant vor der Einnahme von Augentropfen. Es basiert allerdings nicht auf direkter Erfahrung, sondern es wird aus Karlas allgemeiner Abneigung gegenüber Arzneimitteln genährt. Deshalb habe ich Karla davon abgeraten, ihr allgemeines Bauchgefühl auf ihre spezielle Entscheidung zu übertragen und ihr die Visualisierung ihrer Entscheidung empfohlen. Wie solche Abneigungen entstehen, wissen wir aus der Risikoforschung (mehr dazu ->).
Die Visualisierung von Karlas Entscheidung.
Das Prinzip der Visualisierung habe ich bereits im Zusammenhang mit meiner eigenen Geschichte als Patient vorgestellt. Man kann die Visualisierung auch als Überprüfung des Bauchgefühls verstehen. Wie im Zusammenhang mit Bärbels Entscheidung gezeigt, nehmen wir, wenn wir uns beim Treffen einer Entscheidung auf unser Bauchgefühl verlassen, eine Abkürzung. Der lange Weg wäre die Berücksichtigung aller relevanten Informationen, deren Gewichtung und Bewertung. Wir machen uns beim Treffen einer Entscheidung allerdings oft nicht ausreichend bewusst, welche Informationen wirklich relevant sind und die Anzahl an Informationen, die wir im Kopf gewichten und bewerten können, ist begrenzt. Deshalb nehmen wir die Abkürzung.
Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Abkürzung auch zu einer guten Entscheidung führt, habe ich weiter oben beschrieben. In Karlas Fall sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
Für die Visualisierung von Entscheidungen empfehle ich die unten abgebildete Matrix. Sie können Sie hier kostenlos herunterladen, um sie für die Überprüfung Ihrer Entscheidungen zu nutzen.
Ich habe Karla geholfen, die Matrix auszufüllen und ihre Entscheidung zu visualisieren. Der erste Schritt ist die Festlegung der Grundlagen, auf der die Entscheidung basieren soll. In der Matrix werden sie als „Trigger“ bezeichnet. Trigger sind Ziele, Präferenzen oder Bedarfe. Es ist ein Akt des „langsamen Denkens“, diese Trigger zu formulieren, so wie der komplette Prozess der Visualisierung ein Akt des langsamen Denkens ist. Mehr über das schnelle und das langsame Denken lesen Sie hier ->.
Karla nannte mir die Trigger „Erhalt der Sehkraft“ und „Minimierung der Arzneimittelrisiken“. Karlas dritter Trigger war, ihr Bauchgefühl bei der Entscheidung zu berücksichtigen. An den vierten Trigger hatte sie zunächst gar nicht gedacht. Als ich ihn vorschlug, meinte sie, dass „möglichst wenig Chemie“ doch bereits bei dem Punkt „Minimierung der Arzneimittelrisiken“ enthalten sei. Ich habe sie daraufhin gefragt, was sie unter „Chemie“ versteht, denn auch Heilpflanzen, können erhebliche Risiken und Nebenwirkungen habe.
Somit ließ sie den Trigger gelten und gab ihm sogar ein höheres Gewicht als dem Trigger „Minimierung der Arzneimittelrisiken“. Damit sind wir beim zweiten Schritt. Denn in der Regel ist einem Entscheider nicht jeder Trigger gleich wichtig. Mit der Gewichtung visualisiert und legt man fest, welchen Einfluss ein Trigger auf die Entscheidung haben soll. Karla gewichtete ihre Trigger durch die Verteilung von 10 Punkten.
Der dritte Schritt ist die Festlegung der Optionen. Das war in diesem Fall einfach. Zu entscheiden war, ob Karla das vom Augenarzt empfohlene Prostaglandin nimmt oder nicht.
Der vierte und entscheidende Schritt ist die Bewertung der Optionen. Ich empfehle dazu eine Skala von 0 bis 5. Der theoretische Hintergrund dieses Schritts ist das sogenannte „Health Belief Modell“. Es wird zur Analyse und zur Vorhersage des Verhaltens eines Patienten in Bezug auf seine Gesundheit verwendet. Die Entwicklung dieses Modells geht auf die amerikanischen Psychologen Becker und Rosenstein zurück. Demnach hängt das Verhalten von Patienten von zwei Faktoren ab:
- vom persönlichen Wert, den das Erreichen eines bestimmten Ziels für den Patienten hat und
- der von ihm erwarteten Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel durch eine bestimmte Handlung zu erreichen.
In der Matrix werden diese Aspekte durch die Bewertung der Optionen mit Punkten berücksichtigt. Die Punkte geben die Wahrscheinlichkeiten an, die der Patient erwartet. Karla schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Sehkraft ohne Medikament keinen Schaden nimmt, auf 40% ein, was dem Wert „2“ entspricht. Wenn nur der Trigger „Erhalt der Sehkraft“ für Karla Entscheidung relevant wäre, würde alles für das Prostaglandin sprechen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass das Prostaglandin ihre Sehkraft erhält, schätzte sie mit 80% höher ein, was dem Wert „4“ entspricht.
Wenn nur die Trigger „Minimierung der Arzneimittelrisiken“ und „Möglichst wenig Chemie“ für die Entscheidung relevant wären, würde sich Karla ohne Umschweife für die Option „kein Medikament“ entscheiden. Das drückt sich in den 5 Punkten bei der Bewertung aus. Das Weglassen eines Medikamentes führt mit 100%iger Sicherheit nicht zu Arzneimittelrisiken – wenngleich diese Entscheidungen andere Risiken nach sich zieht.
Das drückt sich auch in der Bewertung der Optionen bezogen auf den Trigger „Bauchgefühl berücksichtigen“ aus. Hier wollte Karla zunächst der Option „kein Medikament“ auch 5 Punkte geben, änderte aber ihre Meinung, weil ihr bei näherer Betrachtung klar wurde, dass es auch gute Gründe gab, ihrem Bauchgefühl kritisch gegenüber zu stehen.

Nun kann man auf Basis der Gewichtungen und Bewertungen berechnen, welchen Nutzwert die beiden Optionen für Karla haben. Dazu werden die Gewichte mit den Bewertungen multipliziert und anschließend die Ergebnisse einer Zeile addiert. Der Nutzwert für die Option „kein Medikament“ berechnet sich somit wie folgt:
3,5 x 2 + 2,0 x 3 + 2,0 x 5 + 2,5 x 5 = 35,5
Demnach liegt Karla mit ihrem Bauchgefühl, entsprechend dem Health Belief Modell richtig. Denn die Option „kein Medikament“ hat mit 35,5 Punkten einen höheren Nutzwert als die Option „Prostaglandin. Allerdings ist der Unterschied zu der Option „Prostaglandin“ sehr gering. Damit drückt die Matrix auch Karlas „Hin- und Hergerissensein“ aus. Mit diesem Ergebnis ging Karla zu ihrem Augenarzt.
Einige Tage später rief mich Karla erneut an und zeigte mir das Ergebnis ihres Besuchs. Ihr Augenarzt fragte sie nämlich, ob sie bei der Bewertung der Optionen berücksichtigt habe, dass er ihr ein Prostaglandin ohne Konservierungsmittel empfohlen habe. Tatsächlich hatte Karla bei ihrer Entscheidung nicht gewusst (und deshalb auch nicht berücksichtigt), dass es Prostaglandine ohne Konservierungsmittel gibt. Ihr Augenarzt klärte sie auf und bat sie, der Matrix „Prostaglandin ohne Konservierungsmittel“ als dritte Option hinzuzufügen und zu bewerten.
Das Ergebnis war, dass das Prostaglandin ohne Konservierungsmittel nun den höchsten Nutzwert der 3 Optionen hatte. Der Grund liegt darin, dass sie bei dieser Option die Trigger „Berücksichtigung des Bauchgefühls“ und „Möglichst wenig Chemie“ höher bewertete als die Option „Prostaglandin“ (mit Konservierungsmittel).

Kritische Bewertung der VisuDEC Methode
Basis der VisuDEC Methode ist die sogenannte Nutzwertanalyse. Die Nutzwertanalyse ist eines der Instrumente, die die Entscheidungstheorie zur Unterstützung der Entscheidungsfindung bei komplexen Problemen entwickelt hat. Sie gehört zwar nicht zu den neuesten Methoden zur Unterstützung der Entscheidungsfindung, ist dafür aber leichter zu verstehen und anzuwenden als die komplexeren Alternativen.
Im deutschsprachigen Raum wurde sie durch den Wirtschaftswissenschaftler Christof Zangemeister (1976) bekannt. Die Nutzwertanalyse findet überall dort Anwendung, wo eine Beurteilung auf Basis mehrerer quantitativer und qualitativer Kriterien, Zielen oder Bedingungen getroffen werden muss, so etwa im Controlling, im Projektmanagement oder bei Auftragsentscheidungen. Die Grenzen ihrer Anwendbarkeit werden durch die Anforderungen an die Entscheidung bestimmt. Je wichtiger eine exakte Berechnung der Bewertungen bei der Entscheidung ist, umso weniger ist die Nutzwertanalyse geeignet.
Ich habe die Nutzwertanalyse für die Visualisierung von Patientenentscheidungen adaptiert und nutze sie dafür seit vielen Jahren. Der entscheidende Unterschied zu der ursprünglichen Idee der Nutzwertanalyse ist die Art der Bewertung der Optionen. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, das jeder kennt: Die Produktbewertungen der Stiftung Warentest.
Hier basieren die Bewertungen von Produktmerkmalen auf standardisierten Methoden. Bei der Visualisierung von Karlas Entscheidung basieren die Bewertungen auf Karlas subjektiven Einschätzungen. Das ist für den Zweck, wie ich die Matrix einsetze, völlig ausreichend. Denn es geht nicht darum, eine Entscheidung exakt zu berechnen, sondern sie strukturiert zu durchdenken. Bei beiden Varianten wird die Entscheidung in so viele Einzelentscheidungen zerlegt, wie es Trigger (oder Produkteigenschaften) gibt und am Ende durch die Berechnung der Nutzwerte wieder zu einer Gesamtentscheidung zusammengesetzt.
Wie bereits erwähnt, können Sie die VisuDEC Matrix auf diese Website herunterladen.
